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Oscar-Special

Oscar-Special

Kurz vor der Verleihung des wohl wichtigsten Filmpreises gibt es eine kurze Reise in die Filmgeschichte.
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von (Andretoteles)
Heute Nacht ist es wieder so weit: das wichtigste Stück Gold der Filmwelt wird an die besten Leistungen und besten Filme des vergangenen Jahres verliehen. Bei einer Körpergröße von gerade mal 35 Zentimetern und einem Gewicht von vier Kilogramm, umweht den kleinen Oscar seit der ersten Verleihung 1929 eine Art magische Aura. Zu Beginn eine kleine Trivia: benannt wurde die Statuette nach dem Onkel der Bibliothekarin der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, wie die Filmorganisation offiziell heißt, die beim Anblick ausrief: „Der sieht ja aus wie mein Onkel Oscar!“

Um uns auf die besondere Nacht gebührend vorzubereiten, gehen wir heute auf eine kleine Reise in die Filmgeschichte und werden die großen Epochen der amerikanischen Kinohistorie aufleben lassen. Während unserer Reise werden uns exemplarische Filme einen Einblick in die jeweiligen Epochen geben. Passend zum Anlass haben all diese Filme mindestens den Oscar für den besten Film des Jahres erhalten und ihr findet Verlinkungen zu Kritiken am Ende des Artikels.


Wir beginnen in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg: in den 30ern und 40ern bezeichnete die Goldene Ära Hollywoods eine Zeit des klassischen Hollywood-Kinos. „Casablanca“ steht wie kaum ein weiterer Film für diese Zeit voller Hoffnungen und Träume.
Casablanca Bild aus dem Film „Casablanca“ (Warner Bros)
Ausgezeichnet mit drei Oscar für den besten Film, die beste Regie (Michael Curtiz) und das beste adaptierte Drehbuch, wurde dieses Melodram 1942 zu einem Inbegriff des romantischen, spannenden, rundum erfüllenden Hollywood-Films. Durch die Genre-Abweichungen erhält der Film einen Unterschied zu den typischen Golden-Age-Filmen. Für gewöhnlich wurden standardisierte Genre-Produktionen gedreht, die eine stereotypische Starschauspieler*in erhielten. So drehte John Wayne viele Western und Cary Grant war in viele Komödien zu sehen. Dieses sogenannte Starsystem markierte die Goldene Ära und die dortigen Produktionsstrukturen: Stars wurden durch Langfristverträge an die Produktionsfirmen gekettet und durch Image-Marketing beworben, Drehbücher ihnen auf den Leib geschrieben.

Curtiz‘ Liebesdrama nutzt sehr wohl das Starsystem. Humphrey Bogart und Ingrid Bergman spielen Ilsa Lund und Rick, die sich seit längerem kennen („We’ll always have Paris“, „Here’s looking at you, kid“) und unerfüllt verliebt sind. Bezüglich der Genre-Konventionen weicht Curtiz jedoch ab und vermischt Liebesgeschichte mit Kriminalfilm in kriegerischem Setting.


Natürlich hat das Starsystem der Goldene Ära auch dramaturgische Schwierigkeiten entfacht. So beschreibt Alfred Hitchcock in dem weltberühmten Interview mit François Truffaut namens „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“: „Das ist eins der Probleme, mit dem wir durch das Starsystem ständig konfrontiert werden. Sehr oft ist das Funktionieren einer Geschichte dadurch gefährdet, dass der Star einfach kein Schurke sein kann.“ Das Buch gilt heutzutage als Hauptwerk der Filmliteratur und ist wärmstens zu empfehlen. Die Stars der Zeit mussten also moralisch einwandfrei agieren und durften keine Antagonisten spielen, die ethisch problematische Handlungen ausführen. Insbesondere in Zeiten des Zweiten Weltkrieges (siehe „Casablanca“) sorgte diese Situation für einen Kontrast zur brutalen Realität des Krieges. Der Wiedererkennungswert und das Glorifizieren der Stars beschnitt die künstlerische Freiheit der Regisseur*innen.


Nach Kriegsende und einem Jahrzehnt des Wirtschaftsaufschwungs in den 50ern brachten die 60er Jahre eine neue Phase des Umdenkens. Der Vietnamkrieg ließ viele Hoffnungen und Träume an eine friedvolle Gesellschaft zerplatzen, Studierende weltweit rissen konservative Denkmuster ein und die Figur des Antihelden in düsterem Realismus-Setting eroberte die Leinwände. Lasst uns hier einen kurzen Zwischenstopp machen. Ganz zu Beginn der 1960er Jahre erscheint einer der einflussreichsten Musicalfilme der gesamten Filmgeschichte: „West Side Story“.
West Side Story Bild aus dem Film „West Side Story“ (20th Century Fox)
Ganze 10 Oscars konnte dieses Musical gewinnen und insbesondere in Anbetracht des im Jahr 2021 erschienen Remakes von Steven Spielberg lohnt sich ein Blick auf das Original. Robert Wise dreht zusammen mit Choreograph Jerome Robbins einen künstlerisch und handwerklich hervorragenden Film, der auf der Handlungsebene die typischen Narrative eines Musicals darlegt und dort auch seine Schwächen hat. Dennoch wird durch die moralischen Probleme und charakterlichen Grauzonen bereits die Grundlage für die folgende Ära gelegt. Zu betonen ist dabei das Aufbrechen der Genrekonventionen. Musicals bildeten eine starke Basis für die optimistische Goldene Ära („Du sollst mein Glücksstern sein“, im Original „Singin in the Rain“) und erfahren in der „West Side Story“ eine inhaltlich pessimistische sowie künstlerisch anspruchsvolle Kennzeichnung.


Im Verlauf der 1960er Jahre ereigneten sich einschneidende Geschehnisse in der Welt. Kennedys Ermordung 1963, Vietnamkrieg, Mondlandung.und Woodstock 1969. Ein Jahrzehnt des Wandels! All dies führte nicht nur zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, sondern auch zu einer Verschiebung der filmischen Dramatik. Zum Ende des Jahrzehnts begann die neue Phase, das New Hollywood erreichte in den 70er Jahren den Höhepunkt und schenkte uns eine Vielzahl an künstlerischen und einflussreichen Klassikern. Sowohl inhaltlich (Gesellschaftskritik, Psychogramme, moralische Dilemmata, Antihelden) wie auch formal bewirkte diese Phase einen radikalen Bruch zu den Produktionen der Goldenen Ära. Zahlreiche bekannte Filmbeispiele lassen sich für das New Hollywood aufzählen („Taxi Driver“, „Uhrwerk Orange“, „Der Pate“, „Chinatown“, „Einer flog über das Kuckucksnest“), wir aber schauen auf ein Paradebeispiel zu Beginn der Ära, das den Oscar für den besten Film gewonnen hat.


Asphalt-Cowboy Bild aus dem Film „Asphalt-Cowboy“ (United Artists, Arthaus)
Asphalt-Cowboy“ von John Schlesinger gilt gemeinhin als Klassiker des New Hollywood. Nicht nur mit diesem Film, auch mit dem 1976 erschienen Film „Der Marathon Mann“ prägte Schlesinger die Ära des New Hollywood und dekonstruierte den American Dream sowie die filmische Wirklichkeit. Für „Asphalt-Cowboy“ erhält er seinen einzigen Regie-Oscar. Im Mittelpunkt des Dramas stehen Jon Voight als Joe Buck und Dustin Hoffmann als Rizzo. Hoffmann sollte auch die Hauptrolle in Schlesingers „Marathon Mann“ 1976 spielen und gewährte schon 1967 in „Die Reifeprüfung“ Einblick in eine unsittliche, problematische Beziehung, ebenso ein Werk in den Anfängen des New Hollywood. Voight und Hoffmann wurden beide für den Hauptdarsteller-Oscar nominiert. Hier erkennen wir diverse Kennzeichen der insbesondere in den Jahren danach aufkommenden Phase eines erneuerten Hollywoods: der bewusste Fokus auf Antihelden mit moralischen Ambivalenzen, das Genre des Buddy-Movies (wie „Zwei Banditen“ oder „Bonnie und Clyde“, der jedoch noch im klassischen Studiosystem entstand) oder das Durchbrechen der linearen Erzählstruktur durch Rückblenden und Visionen. Vor allem konnte das von Hitchcock identifizierte Problem der moralisch einwandfreien Starrollen überwunden werden. Einerseits bekamen auch unbekannte Schauspieler*innen vermehrt Chancen, andererseits konnten Stars auch zwiespältige Figuren darstellen. Interessante Oscar-bezogene Nebeninfo: „Asphalt-Cowboy“ ist bis heute der erste und einzige Film, der das sogenannte X-Rating (in DE und AT: ab 18) erhalten und den Oscar für den besten Film gewonnen hat.


Das Aufkommen der Blockbuster zum Ende der 70er (z.B. „Star Wars“ 1977) hat dann in den 80ern und 90ern diese cineastisch sehr wertvolle Phase beendet, was nicht bedeuten soll, dass die Blockbuster keinen Wert haben – sie erzeugen ihn jedoch auf andere Weise. Fortgesetzt wird dieser Trend heutzutage durch das MCU. Mehr oder eher weniger attraktive Prequels und Sequels von weiteren Sequels bestimmen die Kinolandschaft im Mainstream, wir hingegen schauen auf unserer Reise auf Elemente der Postmoderne, die parallel zur Blockbuster-Kultur Einzug in die Kinos genommen hat. Während das Mainstream-Kino häufig klassische Gut-Böse-Narrative bedient, versucht der postmoderne Film diese Erzählungen zu unterlaufen. Von höchster Aktualität im modernen identitätspolitischen Diskurs ist die in der Postmoderne auftretende Zerlegung stereotypischer Darstellungen von Geschlecht, Rasse oder Klasse.


Im Musical „Chicago“ 2005 erleben wir genau eine solche Dekonstruktion von typisch weiblichen Rollenbildern. Rob Marshall inszeniert Renée Zellweger (Roxie) und Catherine Zeta-Jones (Velma) mit einer Mehrdeutigkeit, die es dem Publikum schwer macht, klare Sympathien zu entwickeln.
Chicago Bild aus dem Film „Chicago“ (Buena Vista)
Frauen werden nicht als brave, gesetzmäßige Hausfrauen dargestellt, sondern im Gegenteil. Die Schwierigkeiten des Patriarchats werden genauso angesprochen wie das absurde amerikanische Justizsystem oder die tendenziöse Medienlandschaft, die ebenfalls großen Einfluss auf die Postmoderne hat. Im Gegensatz zu den vorherigen filmischen Epochen musste die Postmoderne nicht auf Kriege oder Wirtschaftswunder reagieren, sondern spiegelt die Themen der modernen Welt wider, die sich durch Medienkonsum, Internet und Eskapismus auszeichnet. Mithilfe des Showcharakters in „Chicago“ wird die Realität in genau diesem eskapistischen Sinne verzerrt und es entsteht letztlich ein mehr als solider Film. Wobei angemerkt werden muss, dass Eskapismus seit jeher Teil des Hollywood-Kinos war, man denke an die Traumwelten der Goldene Ära.


Nachdem wir nun zurückgeblickt haben auf vergangene Epochen und Filme widmen wir uns nochmal der bevorstehenden Verleihung, wo es das Remake von „West Side Story“ von Steven Spielberg zu sieben Nominierungen gebracht hat. Hier bietet sich ein Vergleich mit dem Original an, weshalb in der Kritik zu der aktuellen Verfilmung des Musicalstoffs auf das Original Bezug genommen wird.
West Side Story Bild aus dem Film „West Side Story“ (20th Century Fox)
Auch in diesem Musicalfilm finden sich Elemente der Postmoderne wie Imitation klassischer Motive und Ästhetiken bis hin zur kompletten Imitation eines Werkes (Pastiche, Remake). Interessanterweise ist diese Popularisierung von Neuverfilmungen ebenfalls ein starkes Element des (modernen) Blockbusterkinos, welches wiederum stark von Spielberg beeinflusst wurde. Spielberg drehte keinen gravierend neuen, aber auch keinen katastrophal alten Film. Er verbindet die relevanten Aspekte solide und schafft dennoch nichts Innovatives. Die Oscar-Chancen werden sicherlich gering sein.


Hier endet unsere Reise durch die Film- und Oscar-Geschichte mit der Schlussfolgerung, dass die Geschichte immer auch für die Gegenwart verantwortlich ist und wir stets vergangene Höhepunkte auch im aktuellen Kino wiederfinden werden. Während die Goldene Ära insbesondere in den Musicals weiterlebt („La La Land“, „Mamma Mia!“), sind die Einflüsse des New Hollywood und der Postmoderne deutlich stärker ausgeprägt, wobei wir hier stark zwischen Mainstream- und Arthouse-Kino differenzieren müssen. Nur so viel als Beispiel: dieses Jahr glänzt der Mainstream durch Originalität und Innovation wie „Jurassic World: Ein neues Zeitalter“ (der 6. Film der Jurassic-Park-Reihe), „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ (der sage und schreibe 28. Film des MCU) und „Top Gun: Maverick“. Die Zeiten der Revolutionen des Kinos, wie es das New Hollywood erreicht hat, scheinen vorbei…

Jetzt seid ihr an der Reihe: Welche Filme, die den Oscar für den besten Film gewonnen haben, sind euch in Erinnerung geblieben? Welche filmische Ära imponiert euch am meisten? Welchem Film drückt ihr am Oscar-Abend die Daumen? Wir wünschen viel Spaß bei der Oscar-Verleihung und viel Glück beim Uncut-Oscar-Tippspiel.