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„Zeit ist ein Konstrukt“ – die filmische Handschrift Christopher Nolans

„Zeit ist ein Konstrukt“ – die filmische Handschrift Christopher Nolans

Manuel Oberhollenzer begibt sich im zweiten Teil seines großen Nolan-Specials auf die Spuren seines Erfolgs.
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von (MaverickHollywood8735)
Wie kaum ein anderer Regisseur seiner Generation versteht es Christopher Nolan, sein Publikum mit gleichermaßen spektakulären wie intellektuell stimulierenden Geschichten zu unterhalten.

Bild- und Tongewalt

Wer eine Kinokarte für einen Film des britisch-amerikanischen Filmemachers Christopher Nolan löst, sollte sich dies vorher stets gut überlegen. Nicht, dass an der Qualität seiner Filme etwas auszusetzen ist. Ganz im Gegenteil sogar. Nolan begnügt sich nicht damit, Geschichten einfach nur so zu erzählen, er will, dass sein Publikum sie „erfahren“. Die Bildsprache seiner Filme ist besonders in seinen Science-Fiction-Filmen geradezu monumental. Da passt es ganz wunderbar dazu, dass Nolan der erste Filmemacher war, der teure, schwere, unhandliche, aber qualitativ immens hochwertige IMAX-Kameras für Spielfilme verwendete. „The Dark Knight“ ist der erste Hollywood-Blockbuster mit ausgewählten Sequenzen in diesem Format. Mit der oscarprämierten Kameraarbeit an „Inception“ haben Nolan und sein damaliger Kameramann Wally Pfister neue Maßstäbe gesetzt. Die oscarprämierten Spezialeffekte sind auch über ein Jahrzehnt später noch so überwältigend wie damals. Jeder Film, den Nolan seitdem gedreht hat, seit „Interstellar“ mit Hoyte van Hoytema an der Kamera, wird in IMAX-Sälen gezeigt, wo die Bilder ihre Wirkung so richtig entfalten können. Als großer Filmfan ist Nolan aber kein Freund der digitalen Projektion. Er ist einer der wenigen, vielleicht sogar neben Quentin Tarantino der Einzige, der den analogen Film bevorzugt. Und seit Tarantino mit „The Hateful 8“ das legendäre 70mm-Format entstaubt und ins 21. Jahrhundert geholt hat, dreht auch Nolan seine Filme in diesem Format. Wer übrigens „Oppenheimer“ in IMAX 70mm bestaunen möchte, dem sei ein Ausflug nach Prag ans Herz gelegt. Das Cinema City Flora hat nämlich die größte Leinwand Europas.

Wenn wir aber schon dabei sind, die technischen Fertigkeiten Nolans zu besprechen, so muss an dieser Stelle auch einer der wenigen, aber hartnäckigsten und auffallendsten Kritikpunkte an seinem Werk erwähnt werden: der Sound. Spätestens seit „Dunkirk“ (2017) muss sich Nolan jedes Mal aufs Neue anhören, dass der Soundtrack so ohrenbetäubend laut ist, dass der gesprochene Dialog nahezu unhörbar wird. Wenn Bane (Tom Hardy) in „The Dark Knight Rises“ (2012) durch seine Maske spricht, oder Pilot Farrier (auch Tom Hardy) in „Dunkirk“ in seinem Flugzeug sitzt und durch eine Maske spricht oder nahezu jeder Charakter in „Tenet“ (2020) wichtige Informationen preisgibt, die im Sounddesign verlorengehen, dann kann dies das Filmerlebnis ein wenig trüben. Nolan selbst weigert sich standhaft, die Dialoge seiner Darsteller nachzusynchronisieren, um ihnen nicht die Authentizität ihrer Performances zu nehmen. Wie man zu dieser Erklärung steht, ist Ansichtssache, ich für meinen Teil sehe dies kritisch.

Der Nolan’sche Protagonist

Über zwölf Filme haben wir nunmehr Nolans Figuren handeln und sprechen (soweit verständlich) sehen. Jeder seiner Protagonisten – ja, allesamt männlich – wird im Verlauf seiner Geschichte an seine Grenzen und oft auch darüber hinaus gebracht. Oft geschieht dies durch einen einschneidenden Verlust: Leonard Shelby (Guy Pearce) in „Memento“, der sich nicht an den Mörder seiner Frau erinnern kann. Bruce Wayne (Christian Bale) in der „Dark Knight“-Trilogie, der erst in sehr jungen Jahren seine Eltern bei einem Raubmord verliert, nur um Jahre später auch noch seine große Liebe Rachel (Maggie Gyllenhaal in „The Dark Knight“) durch den diabolischen Joker (Heath Ledger) zu verlieren. Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) in „Inception“, der seine Frau Mal (Marion Cotillard) unbeabsichtigt in den Tod treibt, wofür sie ihn auch noch als Schuldigen dastehen lässt. Cooper (Matthew McConaughey) in „Interstellar“, der gezwungen ist, seine Tochter Murph (Mackenzie Foy) auf der Erde zurückzulassen, um für die Menschheit einen neuen bewohnbaren Planeten zu finden. J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) soll für die amerikanischen Streitkräfte die ultimative Waffe, die Atombombe bauen, muss aber die Konsequenzen und Schuldgefühle seines Handelns ertragen und die Anfeindungen einiger einflussreicher und hochrangiger Gegner wegstecken.

Daneben bzw. stattdessen werden Nolans Hauptfiguren auch mit einer schier übermenschlichen Mission betraut. In der „Dark Knight“-Trilogie im Alleingang das organisierte Verbrechen bekämpfen. In „Inception“ einen hochemotionalen Gedanken in einen fremden Menschen einpflanzen. In „Interstellar“ und „Tenet“ nichts weniger als die Rettung der Menschheit. Und in „Dunkirk“ nichts mehr als das Überleben Hunderttausender eingekesselter Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Dass Nolans Figuren dafür oft mit psychologischen Einschränkungen zu kämpfen haben, macht das Unterfangen für sie nicht zwingend leichter: Leonard Shelbys Gedächtnisverlust, Will Dormers (Al Pacino in „Insomnia“) Schlaflosigkeit, Bruce Waynes panische Angst vor Fledermäusen sowie Harvey Dents (Aaron Eckhart) duale Persönlichkeit in „The Dark Knight“ sowie Dom Cobbs Realitätsverlust.

Weibliche Figuren haben in Nolans Filmen bislang nur in untergeordneten Rollen mitgespielt, oftmals direkt mit dem Schicksal der männlichen Hauptfigur verknüpft. Das soll aber deren Bedeutung in seinen Filmen nicht unbedingt schmälern. Natalie (Carrie-Anne Moss) in „Memento“, Ellie Burr (Hilary Swank) in „Insomnia“, Rachel Dawes (Katie Holmes und Maggie Gyllenhaal) sowie Selina Kyle (Anne Hathaway) in der “Dark Knight”-Trilogie, Mal in „Inception“, Murph in „Interstellar“ (Mackenzie Foy, Jessica Chastain und Ellen Burstyn) sowie Kitty Oppenheimer (Emily Blunt) sind allesamt starke Frauenfiguren, denen Nolan in einigen Momenten die Chance gibt, sich eindrucksvoll in Szene zu setzen.

Wie viele andere Filmemacher setzt auch Christopher Nolan wiederholt auf die selben Schauspieler. Zu seiner „Stock Company“ gehören Michael Caine, Christian Bale, Gary Oldman, Cillian Murphy, Tom Hardy und Kenneth Branagh, um nur jene zu nennen, die öfter als zweimal mit ihm gedreht haben, und das auch außerhalb der „Dark Knight“-Trilogie (sorry, Morgan Freeman). Hinter der Kamera vertraut Nolan ebenso einem eingespielten Team: bis zu dessen Regiedebüt führte Wally Pfister die Kamera, seither Hoyte van Hoytema, Lee Smith zeichnete am öftesten für den Schnitt verantwortlich, während das Produktionsdesign üblicherweise von Nathan Crowley beaufsichtigt wird. Am bekanntesten dürfte aber Nolans lange Assoziation mit dem deutschen Komponisten Hans Zimmer sein, dessen Soundtracks, insbesondere jene für die „Dark Knight“-Filme und „Inception“, für Furore sorgten. Dass das Filmemachen für Nolan auch eine Familienangelegenheit ist, beweist die Tatsache, dass seine Frau Emma Thomas, die er einst an der Universität kennenlernte und dort mit ihr gemeinsam einen Filmclub leitete, jeden seiner Filme produziert. Und seine Kinder dürfen auch hin und wieder vor die Kamera: sein Sohn Magnus durfte Cobbs kleinen Sohn in „Inception“ spielen, während Tochter Flora in einer besonders eindringlichen Szene in „Oppenheimer“ zu sehen ist.

Die (De-)Konstruktion von Zeit

Um die Erzählkunst des Christopher Nolan verstehen zu können, bedarf es mitunter einer sehr komplexen Erklärung auf einem Whiteboard, wie er es einst tat, um seine ungewöhnliche Handlungsstruktur zu „Memento“ zu beschreiben. Geradlinig von A nach B, eine Geschichte stringent von Anfang bis Ende erzählen ist bei ihm nicht. Punkt. Keiner nimmt sich die Phrase „Zeit ist ein Konstrukt“ so sehr zu Herzen wie Christopher Nolan. Seine experimentelle Dekonstruktion von Zeit hat schon unzählige Diskussionen und akademische Untersuchungen angestoßen und lassen das Publikum auch lange nach Ende des Films rätselnd zurück. Gleich sein zweiter Film, „Memento“ (2000), stellt herkömmliche Sehgewohnheiten radikal auf den Kopf, indem Nolan zwei Handlungsstränge parallel zueinander ablaufen lässt, sich insoweit voneinander zu unterscheiden, dass einer in Farbe und einer in Schwarz-Weiß gehalten ist – und dass ersterer eine rückwärtige szenische Reihenfolge verfolgt, während letzterer chronologisch abläuft. Ein genialer Kniff, um dem Publikum den geistigen Zustand des Protagonisten Leonard Shelby nachempfinden zu lassen.

In „Inception“ betreten die Figuren mehrere Ebenen der Traumwelt, in der jeweils eine andere Figur das Gezeigte erträumt. Je tiefer sie in die Traumwelt eindringen, desto mehr Zeit verbringen sie darin – ein ungemein immersives Erlebnis.

In „Interstellar“ entsprechen die paar Stunden, die die Astronauten auf einem fremden Wasserplaneten jenseits des schwarzen Lochs verbringen, aufgrund der Unterschiede der planetaren Gravitation ganze 23 Jahre. Wenn Cooper, während seiner Mission kaum gealtert, auf die Erde zurückkehrt, findet er seine Tochter Murph als alte Frau am Sterbebett wieder.

Dunkirk“ dokumentiert die Odyssee der Soldaten an Land über den Zeitraum einer Woche, jene der zivilen Boote, die von England aus in See stechen, über den eines Tages sowie der Piloten in der Luft über den einer Stunde, nur um diese drei Handlungsstränge im dritten Akt kunstvoll zusammenzuführen und zu einem runden Ende zu bringen.

In „Tenet“ bricht Nolan mit den Konventionen der Zeit, indem er einen russischen Terroristen (Kenneth Branagh) eine Technologie entwickeln lässt, die es ermöglicht, die Zeit rückwärtszudrehen und dadurch den Lauf der Dinge und Objekte umzukehren. Dass dies auch ethische und philosophische Fragen aufwirft, wie etwa das „Großvater-Paradoxon“, wird zwar angesprochen, aber ansonsten nicht weiter verhandelt. Dafür lässt Nolan actiongeladen, ähnlich wie einst die beiden Handlungsstränge in „Memento“, hier im großen Finale zwei Gruppen durch entgegengesetzte Zeitachsen marschieren, um die Bestandteile des sogenannten „Algorithmus“ sicherzustellen, der die Zerstörung der Welt heraufbeschwören könnte.

Man könnte jetzt auch noch eine tiefergehende philosophische, psychoanalytische und semiotische Analyse seiner Werke und wie sie zueinander in Beziehung stehen, anstellen, doch würde dies den Rahmen dieses Specials sprengen und die Diskussion um Nolans ohnehin schon sehr komplexes Werk noch einmal auf neue, intellektuell anspruchsvolle Sphären heben. Wie bereits eingangs erwähnt: wer eine Kinokarte für einen Christopher Nolan-Film löst, sollte sich dies stets gut überlegen. Aber warum sollte man sich dem Zauber, der Faszination und dem Spektakel Nolans entziehen und die anregenden Diskussionen darüber im Nachhinein verpassen? Was auch immer sich dieser brillante Querkopf als nächstes ausdenkt, man umschreibt es am besten mit den kultigen Worten von Eames (Tom Hardy, „Inception“): „Wir sollten keine Angst davor haben, von Größerem zu träumen, Darling!“