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Kritik an der Kritik? ... und warum Filme wichtig sind

Kritik an der Kritik? ... und warum Filme wichtig sind

Vom einfachen Fan zum Filmkritiker über Nacht? So ist es Markus Toth ergangen. Eine Erfahrung die er erst einmal verarbeiten muss und von der er nun hier berichtet.
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von (cinemarkus)
Im Februar hatte ich das Privileg für Uncut auf der 73. Berlinale zu arbeiten. Für mich das erste Mal Presse und (nach dem Vorgeschmack der Viennale) das erste Mal ein Filmfestival dieser Größenordnung.

Nach zwei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen dürfte auch den Veranstaltern ein gigantischer Stein vom Herzen gefallen sein. Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian betonte wie bedeutsam es sei, hier wieder GEMEINSAM Filme sehen zu können. Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der bei der Eröffnung live zugeschaltet wurde, sei auch Berlin als Schauplatz deswegen so symbolisch. Früher getrennt, heute vereint. Gemeinsamkeit soll das treibende Thema bleiben.

An Pressevorführungen teilnehmen und direkt danach mit den Beteiligten sprechen zu können war eine spannende Premiere für mich. Einer Legende wie Steven Spielberg höchstpersönlich live zugehört zu haben, fühlt sich immer noch extrem surreal an und will erst verarbeitet werden (siehe: „Steven Spielberg Special“). Ein Gedanke kam mir aber relativ schnell in den Sinn. Dazu hab ich im Berlinale Palast dieses Foto aufgenommen:

Im Kinosaal auf der Berlinale
Im Berlinale Palast (Foto: Markus Toth)


Auf den ersten Blick zeigt es nur ein Kinopublikum. Für mich repräsentiert es aber um einiges mehr. Besonders in Zeiten von Comic-Bombast, Fanboy-Kultur und Ein-Satz-Reviews stellt man sich „Die Kritiker“ ja gern als so ein monotones Kollektiv vor, das alles schlecht findet, was nicht schwarz-weiß oder französisch ist.

Aber dieses Menschenmeer habe ich als einen mindestens genauso diversen Haufen kennengelernt, wie jene, die die Filme machen. Erfahrene, die seit Jahren oder sogar Jahrzehnten für namhafte Medien schreiben und jene, die sich unabhängig eigene aufgebaut haben. Menschen aller Altersklassen und Herkünfte. Und alle haben sie eine Geschichte, eine Perspektive, eine Stimme.

Selbst innerhalb des anwesenden Teams wurden Filme verschieden aufgenommen. Harald betreibt Uncut.at seit nunmehr 25 Jahren aus Leidenschaft, ist uns dementsprechend in Filmwissen und Festivalerfahrung um einiges voraus. Marion, die ich heuer krankheitsbedingt vertrat, hat Film-, Theater- und Medienwissenschaften studiert, ist schon ein paar Jahre fleißig dabei und bringt natürlich die weibliche Perspektive mit.
Christian hat das langjährige Schreiben mittlerweile sogar zum Beruf machen können. Von Blockbuster bis Arthouse, vor ihm ist ebenso nichts sicher. Hans studiert auch und arbeitet nebenbei in einem
Kino. Bei ihm darf es auch mal experimentell zugehen. Das war sogar nur eine Auswahl an Leuten die immer wieder für das Medium schreiben.
Und dann bin da ich. Ich hab einfach aus Jux angefangen Kritiken zu verfassen, selbst wenn mir das nötige Handwerkszeug fehlt, und ehe ich mich versehe sitze ich bei einem der renommiertesten Festivals der Welt. Plötzlich hab sogar ich eine Stimme. Also selbst im Mikrokosmos einer Grazer Film Website, könnten die Zugänge unterschiedlicher nicht sein.
Und das ist gut so.

Ein an Sebastian Gerdshikov gerichteteter Hasskommentar, den der Filmstarts-Redakteur damals öffentlich machte, hat darüber hinaus in mir viele Fragen ausgelöst. Der Hasskommentar ist einer der räudigsten und verabscheuungswürdigsten Texte die mir je untergekommen sind (und zeigt wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges). Vermutlich ging es sogar noch um etwas, das Sebastian Gerdshikov eigentlich im Grunde gemocht, und nur in Zügen kritisiert hatte. Dass vor solch einem Verhalten selbst Profis nicht gefeit sind, hat 2021 der „Sky Sharks“-Vorfall bei YouTuber Robert Hofmann gezeigt, als er von den Produzenten für seine Meinung zu „Sky Sharks“ attackiert wurde. Das verletzte Ego eines Kunstschaffenden ist selbstverständlich nochmal eine andere Ebene, aber lange keine Entschuldigung.

Obwohl ich Sebastian nicht persönlich kenne, hat es mich tief getroffen. Was treibt jemanden an, solche Dinge zu sagen oder zu schreiben? Wie unsicher muss man selbst sein, um nicht akzeptieren zu können, dass jemand eine andere Meinung zu einem Film hat. Einem Film!? Ich liebe und lebe sie genau wie jeder andere, doch im Gesamtkosmos aller Dinge sind sie doch völlig unwichtig (woran mich besonders das intensive Sichten mehrerer Ukrainekriegsdokus wieder erinnerte).
Oder etwa nicht?

Warum sie definitiv etwas bedeuten, konnte man das ganze Festival hindurch spüren.
Erstens zeigte das Programm wieder wunderbar die Vielfalt die das Medium zu bieten hat, und die gehört nunmal zur Menschheit wie Zuschauer zum Kino.

Zweitens konnte man hautnah miterleben was sie bewirken. Ob sie nun Emotionen schaffen oder Fakten vermitteln, sachlich bleiben oder manipulativ, sie lösen etwas in uns aus, sie verändern uns. Sie geben uns Einblicke in andere Kulturen (wie zum Beispiel der großartige „Tótem“) und bringen uns so noch näher zusammen. Oder sie verarbeiten aktuelle Themen und spiegeln die Gesellschaft wieder („20.000 Arten von Bienen“). Und wenn das alles nicht zutrifft, so holen sie uns immer noch für die Dauer einer Vorführung in ihre Welt und bieten uns eine kurze Pause, um dem Alltag zu entfliehen. Und wenn das nicht jeden noch so „unwichtigen“ Film legitimiert, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.
20.000 Arten von Bienen Bild aus dem Film „20.000 Arten von Bienen“ (DCM, Pandafilm)

Zu guter letzt repräsentiert jeder Film, der das Licht der Welt (oder eben des Projektors) erblickt, eine große Errungenschaft. Viele haben gemeinsam gearbeitet, um ihn zu realisieren und im Kino erleben wir ihn gemeinsam. Kein Medium drückt wohl mehr Gemeinschaft aus. Auch Disney Animation Präsident Clark Spencer hob dies bei seiner „Shorts Celebration“ besonders hervor. (siehe: „100 Years of Disney Animation“)

Ich erlebte freudige Überraschungen und herbe Enttäuschungen; hab wohl jede Emotion durchgemacht, die ein Bewegtbild in mir auslösen kann, hab bittere Tränen vergossen und herzhafte gelacht. Ich hab mich sogar extrem gelangweilt oder furchtbar aufgeregt. Aber auch diese Erfahrungen möchte ich nicht missen, selbst dabei hab ich irgendwas für mich mitnehmen können. 42 Filme zierten am Ende meine Liste, und nicht einen einzigen davon bereue ich gesehen zu haben. Im Gegenteil. Nach einem sehr durchwachsen Film mit Fremden das Gesehene zu besprechen, hat mir ganz neue Perspektiven eröffnet, an die ich vorher gar nicht gedacht hätte, und mir neue Wertschätzung dafür gegeben. Es zeigt also auch, wie uns das Sichten von Filmen näher zusammenrücken lässt, figurativ wie wörtlich.

Also emotionsgeladen scheint das Thema offensichtlich zu sein. In der Jugoslawienkriegsdoku „Kiss the Future“ sprach U2 Sänger Bono davon, dass wir im Grunde genommen immer nur Vorwände suchen, gegeneinander vorzugehen, sei es jetzt Religion oder Hautfarbe. Leider gehört mittlerweile der Filmgeschmack dazu, obwohl gerade sie eigentlich das Potential hätten uns zu vereinen.

Letztes Jahr hat uns ja schon „The Menu“ auf etwas direkte aber extrem unterhaltsame Weise vor Augen geführt, wie wir mit Kunst und Kritik umgehen. Und hier auf dem Festival hat „Art College 1994“ mein Verständnis dieser beiden dann komplett durcheinander gebracht. Es bestimmt ohnehin jeder für sich selbst, was er oder sie gut findet. Diese Subjektivität ist es doch, was Kunst so interessant macht. Warum man das nicht akzeptieren kann, will mir nie in den Sinn kommen.

Art College 1994 Bild aus dem Film „Art College 1994“ (Filmverleih)

Dieses Jahr hatte ich ebenfalls das Glück zwei Screenings von „The Room“ beizuwohnen, mit ausverkauftem Haus und tobender Menge. Sowas sieht man bei Marvel oder Star Wars schon lange nicht mehr. Wie kann es also sein, dass einer der „schlechtesten“ Filme aller Zeiten nach all den Jahren immer noch Massen begeistert, während andere Kritikerlieblinge oder sogar Oscar-Gewinner in totaler Vergessenheit enden.

The Room
The Room“ im Filmcasino Wien

Manche fallen erst durch und erreichen später Kultstatus („Fight Club“). Also auf die Langlebigkeit eines Films scheint die Kritik ohnehin gar keine Auswirkungen zu haben.

Zwei kürzliche Filmsichtungen haben mir darüberhinaus wieder verdeutlicht, dass nicht nur die eigene Geschichte für die subjektive Empfindung entscheidend sein kann, sondern schlicht auch der Zeitpunkt und die aktuelle Verfassung. Wann sehen wir bestimmte Filme? Wie geht es und aktuell? Auch im Hinblick auf Festivals: der wievielte Film am selben Tag war es schon? Welche hab ich davor, welche danach gesehen? Usw. usw.…
Einen Film den ich neulich zur gefühlt perfekten Zeit geschaut habe, hab ich als perfekt bewertet. Mit einem anderen, der offensichtlich von sehr vielen Menschen geliebt wird, konnte ich weniger anfangen, weil ich emotional sehr aufgewühlt war, wodurch die Schwächen scheinbar schwerer gewogen haben.

Sollte man also generell aufhören in Ratings zu denken? Es sind sich ohnehin nicht mal alle einig, wie diese aufzufassen sind. Und wie gerade eben erläutert, können sich diese auch ständig ändern. Auch Scores wie jene von Rotten Tomatoes, die eigentlich genau versuchen einen Überblick über die kollektive Meinung zu geben, werden immer wieder missverstanden und angegriffen. Ich selbst tue mir immer noch schwer, einen Film zu bewerten statt ihn lediglich zu kommentieren. Meine Texte werden deswegen immer so lang, weil ich gerne so viele Aspekte wie möglich mit einbeziehe. Frei nach Goethe, ich hatte einfach keine Zeit mich kurz zu fassen. Aber in einer so schnelllebigen Zeit fehlt vielen ohnehin die Aufmerksamkeitsspanne sich darauf einzulassen. Kurzreviews a la Letterboxd und Twitter boomen, die Welt denkt nur noch in schwarz/weiß oder gut/schlecht.

Mir ist bewusst, dass ich die Leute, die sich das eigentlich zu Herzen nehmen sollten, so nie erreichen werde und doch halte ich weiter hoffnungslos an dem Gedanken fest, dass sich irgendwann etwas daran ändern wird.
Der Autor
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cinemarkus

Forum

  • Festivals sind ein Ausnahmezustand

    Aus meiner eigenen Erfahrung von 8 Berlinalen kann ich Deinen Eindruck nur bestätigen: es ist wirklich schwer, bei einem Pensum von bis zu 6 Filmen pro Tag (okay, im Schnitt waren es 4) bei jedem Film ganz und gar objektiv, fair und ausgewogen und fachkompetent zu schreiben - alleine deshalb schon, weil ich nie wirklich viel Zeit hatte, den Text abzuliefern. Darin lag auch mein Anspruch als Redakteur, so aktuell wie möglich Eindrücke vom Festival und den Filmen zu liefern. Eine gute Möglichkeit, sich einen Überblick von der allgemeinen Meinung zu holen sind Festival-Ausgaben von "Screenrant" oder "Hollywood Reporter", wo es Tabellen mit deren Redaktionsjurys gibt. Nicht nur einmal war ich mit meiner Bewertung wo anders als die Mehrheit dort. Besonders krasses Beispiel war der spätere Hauptpreisgewinner "La Teta Asustada". Ich fand den Film einfach furchtbar, obwohl ich natürlich erkannte, dass der FIlm einen klaren künstlerischen Anspruch hat und eine starke feministische Perspektive. Aber die Story hatte mich damals einfach ganz und gar nicht abgeholt und die Erzählweise mit teilweise metaphorischen und bewusst überzeichneten Momenten verursachte mir Kopfschmerzen. Die Festival-Jury sah das dann aber anders und verlieh den Goldenen Bären.

    Ich würde dazu aber nicht sagen "Shit Happens", weil ich hier so scheinbar falsch lag. Festivals haben immer eine starke politische Komponente und Preise werden häufig als solch ein Signal verliehen als nur deshalb, weil der Film einfach so unglaublich gut war. Damit habe ich zu leben gelernt. Aber ich lag wie gesagt nicht falsch mit meiner Bewertung, denn sie entsprach ganz und gar meinem Eindruck von dem Film (und auch den unmittelbaren Sitznachbarn bei der Pressevorführung). Man muss als Kritiker zu seiner Meinung stehen und jede Kritik, die ihre Argumente auch begründen kann, ist eine gute Kritik. Die letzte Meinung über einen Film bildet sich jede/r Kinobesucher/in selbst.
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    19.08.2023, 17:54 Uhr
  • Update

    Wir haben den Text noch leicht geändert, weil die Geschichte von Sebastian Gerdshikov etwas missverstanden werden konnte. ER hat den Hasskommentar „geteilte“, aber er hat ihn natürlich nicht geschrieben, sondern der Kommentar war an ihn gerichtet. Sorry.
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    08.08.2023, 11:37 Uhr