Filmkritik zu La chimera

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  • Bewertung

    Ein wertvoller Schatz, vergraben unter Entschleunigung

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Alice Rohrwachers neuester Film „La Chimera“ wurde in der Anmoderation vor dem Screening auf der Viennale als der beste „Indiana Jones“-Film des Jahres betitelt. Stimmt das? Und klappt der Wettstreit dieser beiden Filme überhaupt? Lassen sie sich vergleichen, nur weil ihr Protagonist ein exzentrischer Mann ist, der sich auf die Suche nach verlorenen Artefakten macht?

    Auf dem Papier lässt sich „La Chimera“ durchaus als Abenteuerfilm bezeichnen. Nach „Land der Wunder“ und „Glücklich wie Lazzaro“ bildet „La Chimera“ den letzten Teil einer unbetitelten Filmtrilogie von Rohrwacher, die je eine Situation auf dem italienischen Land schildern soll. Der britische Archäologe Arthur kehrt zur Toscana zurück und trifft dort auf einheimische Grabräuber. Arthur ist ihnen dienlich mit seiner Gabe der Rhabdomantie. Er kann nämlich mit einer Wünschelrute Leere im Boden ausfindig machen und so antike Gräber finden. Während er also kollektiv wertvolle Artefakte plündert, holt ihn die Erinnerung an seine Vergangenheit ein.

    Mit der Profession des Grabraubes hat die Prämisse von „La Chimera“ also verruchte Kriminalität und brenzlige Abenteuer zu bieten. Von daher könnte der Film mit den Sympathien der zwielichtigen Figuren spielen oder den Reizen und der Moral des Verbotenen. Aber tut er das schlussendlich auch? Wohl kaum. Den Figuren fehlt es größtenteils an Charisma oder Sympathie, um wirklich interessant zu werden – vor allem der Protagonist wirkt über Längen zu bleich. Teilweise scheint es dann auch so, als hätten die Figuren einen plötzlichen Sinneswandel und hinterfragen ihre professionsbedingte Lebenseinstellungen. Rohrwachers Drehbuch gelingt hier die gewünschten Charakterentwicklungen nicht unbedingt in jenem Erzählfluss wie gewünscht. Zusätzlich erscheint die Inszenierung eher zurückhaltend. Lediglich in wenigen Szenen erlaubt sich die Kameraarbeit ein paar ausgefallene Spielereien, etwa wenn der Protagonist wertvolle Artefakte unter der Erde vergraben entdeckt. Betrachtet man also „La Chimera“ einzig aus der Figurensympathie oder dem Inszenierungsspektakel, verbleibt man bei ernüchternder Enttäuschung. Dafür dümpelt der Plot zu sehr vor sich hin.

    Aber, genau deswegen erscheint die Erwartungshaltung für die Bewertung des Films entscheidend. „La Chimera“ ist ein Arthouse-Film und bringt dementsprechend jene Ästhetik und jenen Anspruch mit sich, den man vom künstlerisch anspruchsvollen Kino gewohnt ist. Wo „La Chimera“ brilliert, ist in der entschleunigten Atmosphäre. Ohne sich selbst in den Vordergrund zu rücken, weiß Alice Rohrwacher die italienische Landschaft einzufangen und der Umgebung eine Einzigartigkeit hinzuzufügen. Wenn es dann auf die Jagd nach Artefakten geht, entsteht dank der atmosphärischen Raffinesse auch eine gewisse Abenteuerlust, die sich allerdings schwer mit einer zerstreuenden Hollywood-Klassiker wie „Indiana Jones“ vergleichen lässt. Vielmehr verspürt man ein Interesse, sich auseinanderzusetzen mit den Relikten alter Kulturen, als dass man unbedingt mit dem Erfolg der Figuren mitfiebert.
    Inhaltlich merkt man bei genauerem Betrachten, dass Rohrwachers Konzept philosophisch aufgeladen ist. Im Wesen des Archäologen steckt immer einen Hang zum Vergangenen und so klammert sich Protagonist Arthur an seine eigene Vergangenheit, die ihn nicht mehr loslässt. Wie die archivierten Gegenstände unter der Erde, kann er versuchen, das Verborgene in seinem Unterbewusstsein zu Tage zu führen, um zu lernen, die Vergangenheit zu akzeptieren. Es bleibt nicht nur dabei, sondern weitere interessante Aspekte sowie existentielle Fragen thematisiert „La Chimera“, sei es zum Beispiel das eigene Haus, das Heim, das die Position im eigenen Lebensabschnitt symbolisiert.

    Das bedeutet abschließend: „La Chimera“ hat definitiv seine Qualität als kleine, aber feine Arthouse-Produktion zu bieten. Er birgt nicht nur eine Atmosphäre, sondern auch spannende Ideen, die faszinieren können, wenn man sich darauf einlassen kann. Ihn mit dem Blockbuster-Kino rundum „Indiana Jones“ zu vergleichen, wird allerdings keinem der beiden Filme gerecht und evoziert falsche Erwartungshaltungen.
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    (Tobit Rohner)
    22.12.2023
    21:34 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

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