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    Melancholisch-mystische Grabräuber-Ballade

    Alice Rohrwacher ist in der europäischen Filmlandschaft längst keine Unbekannte mehr. Ihr neuester Film „La Chimera“ ging 2023 in Cannes ins Rennen um die Goldene Palme, in illustrer Gesellschaft. Ihr Werk ist Ballade, Abenteurergeschichte und Märchen in einem. „La Chimera“ erzählt von Arthur, der mit einer Gabe gesegnet ist: Er spürt, wenn an einem Ort antike Schätze vergraben sind. Es könnte auch ein Fluch sein …

    Arthur (Josh O’Connor), ein Engländer, den es nach Italien verschlagen hat, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Kaum angekommen, wird er von seinen Freunden für die nächste Tour angeworben. Es gibt noch genügend Gräber in der Gegend, in denen antike Schätze warten. Der geheimnisvolle Spartaco zahlt zu gut für die Fundstücke, um sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen.

    „La Chimera“ ist aber weit mehr als eine schnöde Abenteurerstory in malerischer Umgebung. Denn Arthur ist kein Indiana Jones, mit dem er von so manchen Medien (und vermutlich Marketing-Expert*innen) verglichen wird. Seine Beutezüge sind weit weniger spektakulär, wenn auch nicht gänzlich ungefährlich. Er unterscheidet sich zudem von dieser ikonischen Figur, weil er eigentlich von einem anderen Schatz besessen ist: der schönen Beniamina. Seine Suche nach ihr ist ein unmögliches Unterfangen, ein wohl unerfüllbarer Traum, Arthurs große Liebe wird nicht wiederkehren, sie ist tot.

    Arthur scheint sich allerdings nicht beirren zu lassen. Genauso wie Beniaminas Mutter Flora, die stur an der Rückkehr der Tochter festhält, ihr altes, verfallendes Haus nicht verlassen will. Doch dann tritt Italia, die bei Flora Gesangsstunden nimmt, aber eigentlich mehr Haushaltshilfe und ‚Dienerin‘ ist, in Arthurs Leben. Eine Chance, die ewige Suche aufzugeben. Sich nicht mehr davon treiben zu lassen. Italia geht es auch um die Suche nach den etruskischen Gegenständen. Die Grabbeigaben sind nicht für Menschenaugen gedacht, sollten ihre mystischen Ort nicht verlassen. Aber kann Arthur den Verlockungen der physischen wie metaphorischen Schätze widerstehen?

    In flimmernden Bildern im Retro-Ton führt Rohrwacher in die 1980er, zeigt die Grabräuberbande rund um Arthur und deren Konkurrenz als liebenswert-schrullige Figuren, die allesamt Spartacos Geld lockt. Ein wenig klischeehaft und oberflächlich, die Nebenfiguren bekommen kaum Tiefe, beziehungsweise wird ihre Geschichte nicht erzählt. Für das viele Geld arbeiten sie alle hart, allerdings nicht in einem respektablen Job. Bei Nacht wird gegraben, mit Taschenlampe und Kerzenschein werden die wertvollen Fundstücke ins Licht gerückt. Immer in Angst, dass die Carabinieri sie dabei ertappen. Bei Tageslicht, aber hinter einer cleveren Fassade, können die Schätze verhökert werden.

    Ein humorvolles Element der Erzählung ist die musikalische Untermalung. Arthur wird nicht wie Indiana Jones in populären Serien („The Big Bang Theory“) besungen. Rohrwacher lässt ihn aber immerhin innerhalb der Geschichte, vielleicht auch in einer Zwischenwelt, zum Helden von Balladen werden. So erfährt man mehr über sein Schicksal als man sieht. Das soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Ein weiteres originelles Element ist der rote Faden an Beniaminas Kleid, der immer wieder auftaucht. Ein Symbol, ein Anker, ein Wegweiser; vielleicht. Gleichzeitig ist es für literarisch Versierte ein Meta-Kommentar. Denn „La Chimera“ hat einen roten Faden, es ist die Geschichte eines Suchenden. (Und einiges mehr.)

    Das Hereinbrechen von Geschichte, der Verweis auf das Leben der Etrusker, wann immer eines der Gräber geöffnet und die Beigaben entdeckt werden, unterfüttert die Gegenwart von Arthur und den Grabräubern. Ein Zusammenspiel entsteht, vielleicht ein Herausfallen aus der Zeit. Das Mystische eines jahrhundertealten Grabes wird spürbar. Gewollt natürlich, stilisiert, künstlich. Prätentiös könnte man fast sagen.

    Mystisch märchenhaft, aber auch humorvoll kommt Rohrwachers „La Chimera“ daher. Die Eigenheiten der Grabräuberbande etwa und die cleveren Einfälle aller Beteiligten, um die Konkurrenz auszustechen, sorgen für Lacher. Da bietet das Drehbuch schon einige gute Einfälle. Das ist nicht unwichtig. Der Film entspinnt Arthurs Geschichte in gemäßigtem Tempo, etwas traumtänzelnd vielleicht, ähnlich wie der Protagonist selbst. Rohrwacher greift den Trend zur Überlänge auf. Trotz einiger skurriler Zeitrafferszenen ist „La Chimera“ entschleunigt. Sehr entschleunigt. Die Wiederholung von Themen und Szenen bringt ebenso wenig Schwung. Irgendwann schauen die Gräber halt einfach gleich aus. Nicht mehr allzu spannend, wenn man kein Geschichtsnerd ist und sich mit den Funden auskennt. Wenn man sich keine waghalsigen Stunts und viel Action – wie beim fürs Marketing zitierten Vorbild Indiana Jones – erwartet, sollte der Film trotzdem einigermaßen unterhalten.

    Das allzu offensichtlich eingesetzte Abgleiten ins Mystische, in die Welt der Geister, wirkt manchmal etwas zu plakativ und aufdringlich, eher unfreiwillig komisch. Stichwort: Arthur und seine vibrierende Wünschelrute. Oder das sture Festhalten an Beniamina, das unverständlich bleibt. Ein deutlicher Wermutstropfen in einem ansonsten gut funktionierenden Abenteuer-Märchen der anderen Art.
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    03.01.2024
    23:49 Uhr
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    Ein wertvoller Schatz, vergraben unter Entschleunigung

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Alice Rohrwachers neuester Film „La Chimera“ wurde in der Anmoderation vor dem Screening auf der Viennale als der beste „Indiana Jones“-Film des Jahres betitelt. Stimmt das? Und klappt der Wettstreit dieser beiden Filme überhaupt? Lassen sie sich vergleichen, nur weil ihr Protagonist ein exzentrischer Mann ist, der sich auf die Suche nach verlorenen Artefakten macht?

    Auf dem Papier lässt sich „La Chimera“ durchaus als Abenteuerfilm bezeichnen. Nach „Land der Wunder“ und „Glücklich wie Lazzaro“ bildet „La Chimera“ den letzten Teil einer unbetitelten Filmtrilogie von Rohrwacher, die je eine Situation auf dem italienischen Land schildern soll. Der britische Archäologe Arthur kehrt zur Toscana zurück und trifft dort auf einheimische Grabräuber. Arthur ist ihnen dienlich mit seiner Gabe der Rhabdomantie. Er kann nämlich mit einer Wünschelrute Leere im Boden ausfindig machen und so antike Gräber finden. Während er also kollektiv wertvolle Artefakte plündert, holt ihn die Erinnerung an seine Vergangenheit ein.

    Mit der Profession des Grabraubes hat die Prämisse von „La Chimera“ also verruchte Kriminalität und brenzlige Abenteuer zu bieten. Von daher könnte der Film mit den Sympathien der zwielichtigen Figuren spielen oder den Reizen und der Moral des Verbotenen. Aber tut er das schlussendlich auch? Wohl kaum. Den Figuren fehlt es größtenteils an Charisma oder Sympathie, um wirklich interessant zu werden – vor allem der Protagonist wirkt über Längen zu bleich. Teilweise scheint es dann auch so, als hätten die Figuren einen plötzlichen Sinneswandel und hinterfragen ihre professionsbedingte Lebenseinstellungen. Rohrwachers Drehbuch gelingt hier die gewünschten Charakterentwicklungen nicht unbedingt in jenem Erzählfluss wie gewünscht. Zusätzlich erscheint die Inszenierung eher zurückhaltend. Lediglich in wenigen Szenen erlaubt sich die Kameraarbeit ein paar ausgefallene Spielereien, etwa wenn der Protagonist wertvolle Artefakte unter der Erde vergraben entdeckt. Betrachtet man also „La Chimera“ einzig aus der Figurensympathie oder dem Inszenierungsspektakel, verbleibt man bei ernüchternder Enttäuschung. Dafür dümpelt der Plot zu sehr vor sich hin.

    Aber, genau deswegen erscheint die Erwartungshaltung für die Bewertung des Films entscheidend. „La Chimera“ ist ein Arthouse-Film und bringt dementsprechend jene Ästhetik und jenen Anspruch mit sich, den man vom künstlerisch anspruchsvollen Kino gewohnt ist. Wo „La Chimera“ brilliert, ist in der entschleunigten Atmosphäre. Ohne sich selbst in den Vordergrund zu rücken, weiß Alice Rohrwacher die italienische Landschaft einzufangen und der Umgebung eine Einzigartigkeit hinzuzufügen. Wenn es dann auf die Jagd nach Artefakten geht, entsteht dank der atmosphärischen Raffinesse auch eine gewisse Abenteuerlust, die sich allerdings schwer mit einer zerstreuenden Hollywood-Klassiker wie „Indiana Jones“ vergleichen lässt. Vielmehr verspürt man ein Interesse, sich auseinanderzusetzen mit den Relikten alter Kulturen, als dass man unbedingt mit dem Erfolg der Figuren mitfiebert.
    Inhaltlich merkt man bei genauerem Betrachten, dass Rohrwachers Konzept philosophisch aufgeladen ist. Im Wesen des Archäologen steckt immer einen Hang zum Vergangenen und so klammert sich Protagonist Arthur an seine eigene Vergangenheit, die ihn nicht mehr loslässt. Wie die archivierten Gegenstände unter der Erde, kann er versuchen, das Verborgene in seinem Unterbewusstsein zu Tage zu führen, um zu lernen, die Vergangenheit zu akzeptieren. Es bleibt nicht nur dabei, sondern weitere interessante Aspekte sowie existentielle Fragen thematisiert „La Chimera“, sei es zum Beispiel das eigene Haus, das Heim, das die Position im eigenen Lebensabschnitt symbolisiert.

    Das bedeutet abschließend: „La Chimera“ hat definitiv seine Qualität als kleine, aber feine Arthouse-Produktion zu bieten. Er birgt nicht nur eine Atmosphäre, sondern auch spannende Ideen, die faszinieren können, wenn man sich darauf einlassen kann. Ihn mit dem Blockbuster-Kino rundum „Indiana Jones“ zu vergleichen, wird allerdings keinem der beiden Filme gerecht und evoziert falsche Erwartungshaltungen.
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    22.12.2023
    21:34 Uhr
  • Bewertung

    Italien mit der Wünschelrute

    Alice Rohrwacher hat Feuer. Jedenfalls merkt man das, wenn man ihr zuhört. Auch wenn die italienische Autorenfilmerin zwar nicht persönlich zum Filmfestival der Viennale zugegen sein konnte, so hat sie es sich immerhin nicht nehmen lassen, via Zoom (ja, es hat funktioniert) und von der großen Leinwand über ein vollbesetztes Gartenbaukino hinweg aus ihrem Film zu erzählen. Da gab es nichts Diktiertes, und auch keine Message Control. Autarkes Filmemachen braucht sowas nicht, denn es hat eine Vision. Und zwar nicht eine Vision über Profit und den lukrativen Weltmarkt, sondern über den Stoff an sich, für den kaum ein Einsatz zu groß sein kann. Wie zum Beispiel für Filme wie La Chimera.

    Dort, wo der Mainstreamfilm längst anfangen müsste, über seine kreativen Ziele zu reflektieren und sich in repetitiven Schablonen verliert, die so abgestumpft sind, damit sie tunlichst für jedes Zielpublikum taugen, bringen Filmemacher mit Herzblut ihre zum größten Teil selbst verfassten, nicht für alle gefälligen Geschichten auf die Leinwand. Und das, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Genau dafür sind Filmfestivals wie die Viennale ins Leben gerufen worden – um, erleichtert aufatmend, den Pulsschlag des Kinos zu spüren. Das Mainstreamkino kippt vielleicht irgendwann aus den ausgetretenen Latschen, in absehbarer Zeit. Jenes von Alice Rohrwacher längst noch nicht. Dabei hatte ich die Dame anhand ihrer Werke erst 2018 kennen und schätzen gelernt. Ihr bezaubernder, trauriger und ungewöhnlicher Film Glücklich wie Lazzaro hat wiedermal den anderen Blick erlaubt. Auf Möglichkeiten, wie man Kino noch erfahren kann. Im Retro-Look, aber narrativ doch ganz anders, erzählt dieser Film die bittersüße Ballade eines herzensguten Menschen, der sich an den sozialen Bedürfnissen der anderen letztendlich aufreiben wird.

    Ihr brandneuer Spielfilm taucht tief in die römische Geschichte ein, was aber nicht heißen soll, La Chimera ist Historienkino mit Sandalen und Toga. Rohrwacher kreiert ihren laut Indiewire „besten Indiana Jones Film des Jahres“ als eben das: als ganz eigene Interpretation eines Schatzsucher-Abenteuers, eng verbunden mit italienischer Identität und der sinnbildlichen Auseinandersetzung mit einem nahezu janusköpfigen Gemüt einer scheinbar ewigen Nation zwischen Vermächtnis, Gegenwart und draufgängerischer Zukunft. Interessanterweise ist die Hauptfigur, anders als Lazzaro, kein Italiener, sondern ein Brite. Josh O’Connor (u. a. Emma, Ein Festtag) dürfte sich laut Rohrwacher anhand eines Briefes an die Filmemacherin gewandt haben, womöglich mit der dringenden Bitte, diese Rolle spiele zu dürfen. Trotz ihrer Vorstellung, den Vagabunden Arthur als weitaus älter erscheinen zu lassen, hat O`Connor diese Rolle schließlich erhalten. Und er macht sich gut als aus dem Gefängnis entlassenes, ruhe- und heimatloses Medium, das die Fähigkeit besitzt, etruskische Gräber aufzuspüren – Hohlräume unter der Erde, versiegelt seit dem Damals, und vollgefüllt mit wertvollen Grabbbeigaben. Natürlich tut er das nicht nur für sich selbst – eine kleine Bande Grabräuber nutzt seine Fertigkeiten, um ans große Geld zu kommen. Verhökert werden die Artefakte an einen mysteriösen Mr. X, genannt Spartaco. Doch das ist nicht die einzige Bestimmung, die Arthur durch eine ungewisse, sich stetig verändernde Zukunft treibt: Er ist auf der Suche nach seiner großen Liebe Benjamina, die eines Tages plötzlich verschwand. Vielleicht findet sich die Antwort in einem der Gräber, vielleicht in seinen Träumen. Die Irrfahrt des Arthur gerät zur Legendenbildung, zum Stoff für eine Ballade, die von Barden besungen wird, die ebenfalls aus der Zeit gefallen zu sein scheinen und dem ganzen märchenhaften Abenteuer zur poetischen, freien Interpretation einer antiken Sage werden lassen: Orpheus und Eurydike.

    Hätte Rohrbacher diese Analogie nicht erwähnt, mir wäre eher Theseus und Ariadnes Faden in den Sinn gekommen. Denn dieser Faden aus dem Kleid von Benjamina spinnt sich durch die ganze Geschichte. Es brilliert die großartige Isabella Rossellini als fellineske Vertreterin eines vergangenen Italiens, es kokettiert Carol Duarte mit dem melancholischen Indiana Jones, der zwischen Realität und Vision umherwandelt und nirgendwo Ruhe findet. La Chimera ist die Geschichte eines Getriebenen, den das Gestern und Heute Italiens herausfordern. Rohrwachers Bilder sind voll zarter Poesie, weit weg vom Neorealismus eines Visconti oder der resoluten Mentalität einer Sophia Loren. Dieses Italien, mit all seinen Schätzen und seiner Geschichte, schwimmt dahin wie die vage Nacherzählung eines Epos, die frei formulierte Charakterisierung einer sehnsüchtigen Heldengestalt.

    Doch so überraschend einnehmend Rohrwachers Lazzaro damals gewesen war: Die Intensität dieses Films erreicht La Chimera nicht. Kann ein Film zu spielerisch sein? Dass sich die Stilistin zu sehr in ihren Interpretationen verliert und vielleicht gar zu viel will? Hier lässt sich beides fast vermuten. Das kauzige Abenteuer mit dem Spirit idealistischer Outlaws gerät unruhig, vielleicht manchmal auch fahrig. Hat den Enthusiasmus Rohrwachers als brummenden Motor hinter sich, irrt aber manchmal genauso umher wie sein Protagonist. Keine Frage, La Chimera ist ein sehenswertes Stück leichtfüßiges Kunstkino, fabulierend, bunt und analog. Mehr Konzentration auf Arthurs Odyssee, auch in Bezug darauf, was ihn mit seiner verlorenen Geliebten eigentlich verbunden hat, hätte diesen magischen Realismus in die richtige Balance gebracht.



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    02.11.2023
    17:40 Uhr