Filmkritik zu Napoleon

Bilder: Sony Pictures Fotos: Sony Pictures
  • Bewertung

    Ein unvollständiges Schlachtgemälde

    Exklusiv für Uncut
    Vor 23 Jahren schenkte uns das Dreamteam um Ridley Scott und Joaquin Phoenix eines der ikonischsten Sandalen-Meisterwerke. Nach „Gladiator“ widmet sich der stilprägende britische Regisseur Ridley Scott jetzt dem französischen Diktator Napoleon Bonaparte und setzt niemand Geringerem als Joker-Joaquin Phoenix die Kaiserkrone des faszinierenden Feldherrn auf. Gelingt der ambitionierte Husarenritt „Napoleon“?

    Vorweg: ob er wirklich gelingt, können wir noch nicht abschließend beurteilen. Dazu später mehr. Verfilmt sind in linear-chronologischer Form die wirksamen Jahre Napoleons, beginnend bei der französischen Revolution 1789 bis zum Tod im St. Helena-Exil 1821. Dazwischen stürzt sich das Werk in politische Scharmützel, die großen Schlachten und die ewig zerbrechliche Liebe zu Joséphine. Es stürzt in die Zeit, sucht Orientierung und verliert sich in ihr.

    So wie der Feldherr oszilliert der Film zwischen üppigen Schlachtsequenzen und ruhigen Momenten voller Diplomatie oder Sehnsucht nach Joséphine. Brillant demütig, verletzlich und doch kraftvoll porträtiert Vanessa Kirby („Pieces of Woman“, „Mission: Impossible -Fallout“) die einzig wahre Liebe Napoleons, die eigentlich tragischste Figur auf diesem Schlachtfeld. Mit frühfeministischen Untertönen durchbricht sie die Unterwerfung und zeigt dem Kaiser Grenzen auf. Schauspielerische Oberhand gewinnt klarerweise Joaquin Phoenix. Aus dem bisweilen orientierungslosen Drehbuch holt er das Beste raus. Seine nächste sichere Oscar-Nominierung, wenngleich die ihn kennzeichnende Ambiguität hier nicht benötigt wird, der schleichende Wahnsinn, den er so oft bravourös darstellte.

    Denn es fehlt an Stringenz und Fokus. Nicht überzeugend: Drehbuchautor David Scarpa (auch verantwortlich für „Gladiator 2“ unter Scotts Regie, geplant für November 2024). Napoleons Hingabe und Liebe zu Joséphine bleibt erstaunlich kalt, seine Obsession unglaubwürdig, die Reduktion der Beziehung nur auf den Erben oberflächlich. Ob der leichtfüßige Humor passt, muss das Publikum bewerten, er wird polarisieren. Stellenweise artet die Szenerie in infantilen Slapstick aus. Eine passende Würdigung der im Abspann erwähnten 3 Millionen gestorbenen Menschen, die in den Napoleonischen Koalitionskriegen ihr Leben ließen? Mindestens fraglich. Noch schwerer wiegt: das fehlende Innere Napoleons. Eine ausgereifte Charakterstudie bekommen wir (noch) nicht, wir suchen vergebens Tiefe, Ängste und Charisma der blassen Hauptfigur. In der Kinofassung wirkt „Napoleon“ seltsam zerschnitten, das Buch chaotisch angesichts der ehrgeizigen Inhalte, die Kriege wie Fremdkörper. Vielleicht schafft es der von Ridley Scott bereits angekündigte Director‘s Cut mit über vier Stunden Laufzeit die Lücken zu füllen.

    Wo es an Seele mangelt, nehmen andere Elemente ihren Platz ein. Altmeister Ridley Scott mitsamt Dariusz Wolski („Fluch der Karibik“, „Der Marsianer“), inzwischen Haus-und-Hof-Kameramann von Scott, inszeniert erwartbar einen Kostüm-Schinken mit opulenter Ausstattung, mächtigen Armeen und übersättigten Bildern. Er führt uns mit militärischem Marschgetrommel und barocken Klängen nach Paris, nach Ägypten, über Austerlitz bis nach Moskau. Auf dem Schlachtfeld spritzt Blut, aufgeblähte Kavalleriestaffeln reiten umher, hier hat der Film starke Momente. Häufige Zeitlupen sollen die Konzentration schärfen, die dem Drehbuch fehlt. Ob Marie Antoinette nun lange statt kurze Haare trug, ob die Schlacht so filmreif nah an den Pyramiden stattfand –historische Präzision wird Opfer von Kunst und Dramaturgie. Und das wäre völlig in Ordnung, hätten Napoleon ein Innenleben und der Film mehr Klarheit.

    Vor dem Fazit eine Anmerkung, die zum Napoleon-Thema gestattet sein muss. Zeitlebens studierte Visionär Stanley Kubrick das Faszinosum Napoleon. Viele Recherchen verwendete er immerhin für den unterschätzten „Barry Lyndon“ (1975). Und doch bleibt die Frage: Was wäre es für ein Film geworden, hätte Stanley Kubrick sein Lebenswerk vollenden und einen Film über Napoleon drehen können… Zumindest plant Steven Spielberg eine Serie, die auf Kubricks umfangreichen Recherchen basieren soll.

    Fazit: „Napoleon“ zeichnet ästhetisch beeindruckende Schlachtengemälde, leider geht dem Epos im Zeichnen der Charaktere die Farbe aus. Handwerklich, inszenatorisch und schauspieltechnisch sehr solide, ein in Ansätzen interessantes, aber überambitioniertes Epos, dem es an Struktur mangelt. Entweder ist weniger hier mehr mit reinem Fokus auf zwischenmenschliche Tragödien oder politischen Wirrungen. Oder aber der Director’s Cut erfüllt alle Anforderungen des imposanten Lebens des Napoleon. Die 158-minütige Kinofassung ist jedenfalls wie ein Puzzle ohne Ordnung, bei dem am Ende Napoleons ikonischer Hut, der Zweispitz, an der falschen Stelle sitzt.
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    (André Masannek)
    22.11.2023
    21:39 Uhr
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