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  • Bewertung

    Ein Meister nimmt Abschied – oder etwa nicht?

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Hayao Miyazaki einen Meister seines Fachs zu nennen, wäre wahrscheinlich noch untertrieben. Kein anderer Filmemacher hat mehr geholfen, den Animefilm in den westlichen Markt zu katapultieren, damit Abermillionen von Menschen für japanische Zeichenkunst begeistern können. Ein einstiges Nischengut wurde in die Mitte der Gesellschaft gebracht. Als Gründer des legendären Studio Ghibli blickt er jedenfalls auf eine beachtliche Karriere zurück, deren filmische Vielfalt Generationen von Zuschauerinnen und Zuschauern prägte – jung wie alt. Eine Karriere, von der man sich eigentlich bereits vor gut zehn Jahren in den Ruhestand verabschiedet hatte. Und das mit einem weiteren Karrierehighlight: dem formidablen Flugzeugbauer-Drama „The Wind Rises“, Miyazakis bis dahin erwachsensten und geerdetsten Film. Der quasi perfekte Schwanengesang. So ganz hat der Regisseur von „Chihiros Reise ins Zauberland“ und „Prinzessin Mononoke“ seine Kunst aber nicht ruhen lassen können. Für eine weitere Arbeit ist er nun aus der wohlverdienten Rente zurückgekehrt, hat einmal mehr zu Stift und Papier gegriffen, die Studio-Rechner auf Trab gehalten. Ob es sich bei „Der Junge und der Reiher“ (int. Titel „The Boy and the Heron“) tatsächlich um sein letztes Werk handelt, sei mal dahingestellt – Gerüchten zufolge soll der 82-Jährige schon an seinem nächsten Projekt tüfteln. Was aber gesagt sein muss: diesem Mammutwerk ist viel gelebtes Leben anzumerken. In all den emotionalen Höhe- und Tiefpunkten, in all der Unberechenbarkeit, in all dem fantasievollen Chaos.

    Zurück ins Wunderland

    Es ist abermals eine Geschichte, die zwischen den Trümmern von Krieg und Zerstörung ihren Ausgangspunkt findet. Im zarten Alter von 12 Jahren hat Mahito in Folge eines Luftangriffs seine Mutter verloren – ein Trauma, das den Jungen auch einige Zeit später nicht kaltlässt. Als sein Papa plötzlich die Schwester seiner verstorbenen Gattin heiratet und die Familie von Tokio in eine ländliche Region zieht, wächst die Frustration des Teenies ins Unermessliche. Wäre die Trauer in ihm nicht schon schwerwiegend genug, birgt der Umzug ganz neue Hürden. Dann aber erspäht er eines Tages einen geheimnisvollen Graureiher, der wie durch ein Wunder zu sprechen beginnt. Dieser führt den Jungen in einen Turm, wo ihm ein Tor in eine magische Welt geöffnet wird. Da wimmelt es nur von fantastischen Lebewesen – sprechende Vögel, bohnenartige Lebewesen, die wie Bläschen durch die Lüfte schweben, einstige Menschen, auf denen ein Fluch lastet. Mahito ist sich sicher: in dieser wundersamen Welt wird es zum Wiedersehen mit seiner geliebten Mutter kommen.

    Ein selbstreflexiver Trip

    Miyazakis zweites Lebewohl vermengt das breite Spektrum an Themen, das in seinen bisherigen Arbeiten abgedeckt wurde, zu einer großen, bunten Mischkulanz. Von Krieg und Verlust über Familie hin zu Umweltschultz und Kultur ist alles dabei. Wehmütig und selbstreferentiell wie zuvor noch nie lässt Miyazaki sein gesamtes Lebenswerk Revue passieren – umrandet durch epochale Bildkompositionen, die einen alternden Künstler auf der Höhe seines Schaffens zeigen. Obendrauf gibt es eine Fuhr an Kreaturen, die in ihrer unerschöpflich fantasievollen Kraft nur der Vorstellung des Anime-Maestros entspringen könnte. Dennoch ist „Der Junge und der Reihe“ ein rätselhaftes, ja in seinem sprunghaften Naturell regelrecht wirres Abenteuer, über das sich viele den Kopf zerbrechen werden. Gleichzeitig ist es aber auch Miyazakis wohl persönlichster Film, der trotz oder gerade wegen konfuser Abzweigungen zu einer äußerst stimmigen Endpointe gelangt. Wer angesichts all der abstrakten Inhalte nach einer leitenden Hand sucht, wird sich im finalen (?) Labyrinth des Altmeisters schwer zurechtfinden. Wer hingegen gemeinsam mit seinem Macher gereift ist und vergangenen Tagen nicht für immer nachtrauern muss, dem wird dieser melancholisch angehauchte Trip in jenseitige Sphären lange im Kopf bleiben. Ein Karrierefinale, das sich auch wie ein solches anfühlt – und sich trotzdem, mit hoffnungsvollem Auge, ein Türchen in Richtung Zukunft offenhält. Arigatō, Miyazaki-san.
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    (Christian Pogatetz)
    23.12.2023
    20:09 Uhr