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    Deutsches Kino von seiner besten Seite

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Beinahe ein Jahr ist es schon wieder her, als Deutschland mit „Im Westen nichts Neues“ zuletzt großes Kino kreierte. Mit „Die Theorie von Allem“, welcher bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte, folgt nun eine neue filmische Perle von Timm Kröger, der uns in die Schweizer Alpen entführt. Es ist eine durch und durch überraschende Produktion, in der Thriller und Krimi, Unberechenbarkeit und Düsternis miteinander verschmelzen.

    Johannes Leinert (Jan Bülow) ist Physiker und beschäftigt sich mit den komplexen Theorien der Quantenmechanik. Sein Buch, in dem er Erkenntnisse festhält, welche die Welt verändern könnten, basiert auf einer Geschichte, die sich vor mehr als einem Jahrzehnt in den Schweizer Alpen zugetragen hat. Ein Sprung in die Vergangenheit, folgt der Rekonstruktion jener Geschichte. Damals noch in seinen Zwanzigern und voller Tatendrang, befand er sich unter den Fittichen seines Doktorvaters Dr. Julius Strathen (Hanns Zischler). Nachdem eines Tages nicht erklärbare mysteriöse Ereignisse passieren, in denen auch Strathens Rivale Prof. Blumberg (Gottfried Breitfuß) eine Rolle spielt, nimmt Leinert eigenhändig Ermittlungen auf. Dabei ahnt er noch nicht, dass tief in den Schweizer Bergen ein Geheimnis ruht.

    Viele haben davon sicherlich schon irgendwo mal etwas gehört: Die Theorie von Allem (auch als Weltformel bekannt) beschäftigt sich mit physikalischen Gesetzen. Worum es ganz genau geht, das können wohl nur Physiker konkret zusammenbringen. Ein Exkurs in Quantenphysik, Gravitation, schwarze Löcher und Parallelwelten sparen wir uns an der Stelle, es würde die Filmkritik wohl ad infinitum führen. Das Gute dabei: Diese Theorie (im Englischen „The theory of everything“) ist nicht nur in der Populärwisssenschaft anzufinden, sondern mittlerweile genauso in der Populärkultur, wie viele Kinofilme (z.b. „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ 2014), Fernsehfilme oder Fernsehserien zeigen.

    Philosophie, Mystery und sicherlich auch wissenschaftliche Zugängen bieten sich hier an, es ist wohl kein Wunder, dass sich Filmemacher gern an diesem Begriff bedienen. Doch was soll man damit anfangen? Kröger bildet keine Ausnahme und das ist sicherlich auch gar nicht verkehrt. Auch bei seinem Werk erzeugt der Titel Neugier und Aufmerksamkeit, es liegt wohl vordergründig daran, da sich nicht sagen lässt, welche Richtung seine Geschichte einschlagen wird. Stellt euch an dieser Stelle schon einmal darauf ein, dass auch diese Filmkritik eher kryptisch wird.

    So viel sei gesagt: „Die Theorie von Allem“ ist ein Werk, in dem viele cineastische Komponenten aufeinandertreffen. Zwar nehmen Elemente vom Krimi- und Thrillergenre einen großen Anteil ein und doch gibt es da immer wieder vereinzelte Aspekte, die Kröger sehr gelungen hinzufügt. Märchenhaft fühlen sich beispielsweise einige Szenen an, die im starken Kontrast zu den realistischeren stehen, in denen versucht wird, die Welt auf wissenschaftliche Art und Weise zu ergründen. Mysterium in Form von Düsternis, Unberechenbarkeit und jede Menge Kopfkino kommen hinzu, die das Ganze zusätzlich aufpeppen. Handelt es sich im Inneren der Berge um eine Verschwörung? Um Aliens? Um physikalische Anomalien? Um die Superreichen, die einen perfiden Plan ausgeheckt haben? Fragen über Fragen, wobei Kröger sehr gekonnt mit all diesen Möglichkeiten spielt und dem Publikum genug Zeit zum Miträtseln bietet.

    Darüber hinaus gibt es genug filmische Referenzen, die sich ebenfalls anbieten. Parallelen zu „The Shining“ lassen sich zum Beispiel anführen, ebenso zur Netflix-Serie „Dark“, „Under the Silver Lake“ bis hin zu alten Edgar Wallace oder Alfred Hitchcock-Filmen. Es ist jedoch nicht so, dass Kröger von einem zum anderen springt und der Film Müh und Not hat, all das unter einem Hut zu bringen. Vielmehr profitiert der Film von seiner Stärke, dass er all diese Impressionen auf subtiler Ebene verbindet und es dem Publikum nie ins Gesicht reibt. Eine spezielle Sonderheit kommt ohnehin noch hinzu. Es geht nämlich nie direkt um das unmittelbare Mysterium, sondern darum, dass die Figuren ungewollt darüber stolpern. Anknüpfend an die bereits erwähnte märchenhafte Komponente, lässt sich auf metaphorischer Ebene sagen, dass es vielmehr um die Spur aus Brotkrumen geht, die in das Ungewisse führt. Das ist insofern wichtig, da es hier nie um Auflösung oder gar vollständige Ergründung geht. Jene durch und durch menschliche Eigenschaft, nach Wissen zu streben, Unklarheiten zu beseitigen und Licht ins Dunkle zu bringen, spielt sich im Hintergrund ab. Im Vordergrund geht es vielmehr darum, dass das Mysterium größer als der Mensch ist und dass dieser mit eben jener schwer zu ertragenden Wahrheit konfrontiert wird.

    Deutsches Kino, schweres Kino heißt es so oft und doch zeigt Kröger auf anschaulichste Weise das Gegenteil. Der gelungene Mix aus Thriller, Krimi und mitunter Horror geht aufgrund der cleveren Verschachtelung hervorragend auf. Verbunden mit den atmosphärischen schwarz-weißen Bildern, in denen Kröger auch sein über die Jahre gesammeltes Wissen als Kameramann unter Beweis stellt, ist „Die Theorie von Allem“ ein Paradebeispiel für gelungenes Mystery-Kino.
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    (Michael Gasch)
    15.09.2023
    10:50 Uhr