Filmkritik zu Marvin

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  • Bewertung

    Theater, das Leben rettet

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Das französische Drama „Marvin“ von Regisseurin Anne Fontaine feierte diesen September im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig seine Weltpremiere und wurde dort für die gute Umsetzung der LGBT-Thematik (= lesbian, gay, bisexual, transgender) mit der Queer Lion Trophäe ausgezeichnet. Aktuell ist „Marvin“ auf auf der Viennale 2017 zu sehen. Das Werk handelt von Selbstzweifel, Ängsten, Scham und vor allem auch von Mut und Kraft, die man benötigt, sich aus solchen negativen Gefühlswelten zu befreien, diese positiv für sich zu nutzen um daran sogar zu wachsen.

    Der junge Marvin Bijoux, welcher hervorragend von Jules Porier gespielt wird, hat es nicht leicht im Leben. In der Schule wird er gemobbt, psychisch und physisch von seinen älteren Mitschülern missbraucht. Auch zuhause fehlt es ihm an Geborgenheit und Verständnis. Er wächst in einer bildungsschwachen Großfamilie in einer Kleinstadt irgendwo auf dem französischen Land auf, bei der, wenn man dem Sprichwort „Der Ton macht die Musik“ folgen würde, akustische Vergewaltigungen an der Tagesordnung zu stehen scheinen. Eine respektvolle, nicht nur von Geschrei und Schimpfwörter überflutete Diskussion findet in diesem Haushalt eigentlich nie statt. Homophobe und rassistische Äußerungen soweit das Auge bzw. die Ohren reichen machen es dem pubertierenden Marvin, der gerade erst dabei ist seine Sexualität zu entdecken, unmöglich sich selbst zu akzeptieren. Was fest steht ist, dass Marvin sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt und dies in einem Umfeld, in dem Homosexualität als mentale Störung, wie es ihm sein Vater (Grégory Gadebois) erklärt, aufgefasst wird ein absolutes No-Go für den Jugendlichen darstellt. Dies hat zur Folge, dass Marvin als Schutzmechanismus selbst gegen Schwule hetzt und sie beleidigt. Während sich manch anderer in Marvins Situation und mit dessen Vorgeschichte in die Welt der Drogen und des Alkohols stürzen würde, flüchtet er in die der Kunst, genauer gesagt auf die Bühnen des Theaters. Es fing mit der schulischen Theater-AG an und endet erfolgreich am Pariser Theater an der Seite von keiner geringeren als Isabelle Huppert, die sich in „Marvin“ lässig und mit trockenem Humor selbst verkörpert.

    Der Plot setzt sich aus Flashbacks und -forwards zusammen und folgt keiner chronologischen Ordnung. Die verschiedenen Erzählebenen zeigen Marvin als Jugendlichen (Jules Porier) und als jungen Erwachsenen (Finnegan Oldfield), der zwecks seiner Schauspielkarriere in die französische Hauptstadt zieht. Der Erzählung ist trotz ihrer leicht verschachtelten Erzählstruktur leicht zu folgen, da der Fokus im Film eindeutig auf das Einfühlungsvermögen der Zuschauerinnen und Zuschauer gerichtet wird. Im wunderschönen, multikulturellen Paris versucht er seinen Platz in der Gesellschaft zu finden und taucht auf diesem Weg in aufregende neue Welten ein. Sein Bühnenprogramm umfasst Szenen, sogar wortgleiche Dialoge aus seiner Vergangenheit, die er in einem Buch festhält und später publiziert. Auf der Bühne sei zwar alles Fiktion, so die Filmfigur Marvin, doch der Inhalt sei trotzdem wahr.

    Obwohl sich Marvin neu erfindet, ja sogar seinen Namen ändert, hat er immer noch tief verankerte Probleme mit sich selbst und seiner Vergangenheit, die immer ein Teil von ihm sein wird. Denn auch wenn Marvin in Paris einige Freunde hat, wirkt er im Großen und Ganzen sozial sehr unbeholfen und kann keine bindenden Beziehungen zu Menschen eingehen, wie man an seiner etwas seltsam anmutenden Beziehung zu seinem Sugardaddy Roland (Charles Berlin) erkennen kann.

    Auf Partys ist Marvin der schüchterne, wortkarge Beobachter, der nur mit Anwesenden spricht, wenn sie aktiv auf ihn zugehen. Auf der Bühne hingegen ist er selbstbestimmt, mutig und extrovertiert. Diesen Kontrast zwischen dem privaten Marvin und der Kunstfigur, zu die er sich auf der Bühne verwandelt ist dem beeindruckenden Schauspiel von Finnegan Oldfield zu verdanken, der schauspieltechnisch in „Marvin“ voll überzeugen kann.

    Das Zusammenspiel von Filmmusik, den gezeigten Bildern und Dialogen wurde von Anne Fontaine durchweg souverän aufeinander abgestimmt und kreiert dadurch eine hohe Emotionalität. „Marvin“ ist ein, wie ich finde, rundum gelungener Spielfilm, der das Publikum fesselt und berührt ohne dabei in kitschige Klischees zu verfallen.
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    (Susan Häußermann)
    21.10.2017
    18:19 Uhr