Hannah

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Forumseintrag zu „Hannah“ von littlesuSAnshine

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littlesuSAnshine (25.10.2017 09:22) Bewertung
Identitätskrisen haben keine Altersbeschränkung
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
Andrea Pallaoros neustes Werk „Hannah“ spaltet die Gartenbaukino-Gemeinschaft bei seiner Österreichprämiere in Wien. Während einige Besucherinnen und Besucher vorzeitig den Saal verließen, saßen andere geflashed in ihren Kinosesseln und jubelten beim Abspann der Leinwand und dem Regisseur, der in diesem Moment die Bühne betrat, entgegen. Ich gehöre definitiv zu Letzteren und schätzte jede sorgfältig inszenierte Einstellung dieses visuell ansprechenden Films bis zur letzten Sekunde.

„Hannah“ ist ein intimes Portrait einer älteren Dame jenseits der 70, die mit ihrer derzeitigen Gefühlswelt zu kämpfen hat ohne dabei jemals wehleidig oder gar wütend zu sein. Wenn sie leidet, dann nur für sich und ganz im Stillen. Nach außen wirkt sie neutral, sodass keiner vermuten würde, dass sie sich gerade inmitten einer Lebenskrise befindet. Doch sie wurde von allen ihren nahstehenden Angehörigen verlassen. Ihr Mann sitzt aus Gründen, die nie aufgeklärt werden, im Gefängnis. Ihr Sohn möchte mit ihr nichts mehr zu tun haben und verbietet ihr jeglichen Kontakt zu ihrem Enkel. Sogar ihr Hund wendet sich von ihr ab, als sie eines Tages verzweifelt und auf skurrile Weise versucht, ihm sein Essen schmackhaft zu machen. Trotz ihrer alten Tage, weiß sie nicht wer sie ist. Sie ist gestrandet, wie einst der Wal, den sie an einem Spaziergang am Meer begegnete. Filme über sich in einer Midlife-Crisis befindlichen Charaktere gibt es so viele wie Sterne am Himmel einer klaren Sommernacht. Doch „Hannah“ zeigt eine betagte Frau, die sich sogzusagen in einer Endlife-Crisis befindet und sich mit den gegebenen Umständen nur schwer abfinden kann.

Die Kamera ist in so gut wie jeder Einstellung statisch und wenn nicht, ist die Bewegung ebendieser durch Hannah motiviert. In außerräumlichen Szenen wird die Protagonistin meistens von der Kamera verfolgt, was das Publikum somit zu ihrem ständigen Begleiter befördert. In geschlossenen Räumen, wie zum Beispiel in ihrer Wohnung, in der die meisten Szenen spielen, nehmen die Rezipientinnen und Rezipienten dann wieder die Rolle eines stillen Voyeurs ein. Die Kamera ist statisch und versteckt sich hinter Ecken, Gittern oder erhascht einen Blick auf Hannah, indem sie zwischen offenen Treppenstufen hindurchschaut. Dadurch entstehen viele Frame-in-Frame-Aufnahmen, was eine größere Distanz zur Figur herstellt.

Der größte Teil des Geschehens findet im Off statt. Während das On, welches in der französischen Filmtheorie auch als champ bezeichnet wird, der Raum ist, der innerhalb des Bildfeldes situiert ist, bezeichnet im Gegenzug das Off, oder hors-champ all das, was sich jenseits der Bildgrenze erstreckt. Genau damit spielt der Regisseur. Denn er verschiebt das, sich eigentlich im Off stattfindende, Geschehen durch Spiegel oder spiegelnde Fenster und Oberflächen im Bus oder der U-Bahn ins Bildfeld. Auch bei Dialogen werden keine Schuss-Gegenschuss Verfahren eingesetzt, wie man sie aus den meisten Filmen kennt. Meistens liegt der Fokus der Dialogszenen ungeteilt auf Hannah, ihrer Mimik und ihren Emotionen.

Der Film schafft intime Momente zwischen dem Zusehenden und der Filmfigur, ohne dabei den Drang zu haben, die Emotionalität durch melancholische Soundtracks oder ähnlichem zu verstärken. Die Bilder und teils extrem langen Einstellungen sprechen für sich. Obwohl der Film einem sehr gemächlichen Erzähltempo folgt, kommt während des fast zweistündigen Films keine Langeweile auf. Andrea Pallaoro lässt sein Werk zum perfekten Zeitpunkt enden, keine Minute zu spät oder zu früh, und schenkt dem Publikum somit die Möglichkeit Hannahs Geschichte in den Köpfen individuell weiterleben zu lassen.
 
 

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