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    Über Pornographie, Gewalt und die Grenzen von Fiktion

    Eine Reihe unterschiedlicher Männer aus allen Altersklassen folgt einem Casting-Aufruf der Regisseurin Ruth Beckermann. Sie alle nehmen auf demselben Sofa Platz, wo sie mit Textstellen aus dem Buch „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt“ konfrontiert werden. Es handelt sich hierbei um ein berühmtes Werk pornographischer Literatur, das bereits mehr als hundert Jahre am Buckel hat und die sexuellen Erlebnisse einer Minderjährigen schildert.

    So manche werden sich an dieser Stelle vielleicht schon fragen: Was treibt eine so renommierte Filmemacherin wie Ruth Beckermann dazu, ein so altes, sicherlich alles andere als unproblematisches Buch als Vorlage für ihren Film zu nutzen?
    Zunächst muss man hier hervorheben, dass es sich um einen Roman und somit um Fiktion handelt, wie auch die Regisseurin selbst betont. Dass dem Werk aber nicht selten ein missbräuchlicher Charakter zugeschrieben wird, ist auch korrekt, berechtigt und mehr noch – wird sogar von den männlichen Protagonisten im Film thematisiert. Demnach sei die ständig betonte Lust von Josefine Mutzenbacher an all den sexuellen Handlungen eine, die sich viel mehr nach einer Männerfantasie, einem männlichen Wunschdenken anfühle. Dadurch öffnet sie womöglich Tür und Tor für reale Gewalt oder viel eher deren Normalisierung und Legitimation. In diesem Fall wäre Fiktion eben nicht einfach Fiktion, sondern hätte einen ganz konkreten und absehbaren Effekt auf die Realität.
    Hierbei Bezüge zu unserem heutigen allgegenwärtigen Pornokonsum zu ziehen, liegt nicht fern – so spiegeln sich ja auch dort bekanntermaßen alle denkbaren Alters- und Verwandtschaftskonstellationen (seien diese auch nur fiktiv), Tabubrüche und Gewaltelemente wider. Ganz zu schweigen von der fehlenden Kontrolle über die Inhalte auf einschlägigen Portalen, die erst in den letzten Jahren vermehrt zum Thema gemacht wurde. An Kenntnissen über die Einwilligung, die Selbstbestimmung und die tatsächlichen Umstände, welche den Filmen zu Grunde liegen, mangelt es uns oft völlig. Im schlimmsten Fall findet man sich ungewollt bei dem Konsum von Darstellungen sexualisierter Gewalt wieder. Ob man nun bewusst oder unbewusst in dieser Position landet, macht für die Betroffenen dann vermutlich auch keinen allzu großen Unterschied mehr.
    In einer Gesellschaft, in der Pornographie also in all ihren Ausprägungen und streitbaren Aspekten allgegenwärtig ist, zugleich aber wenig Austausch darüber statfindet, scheint die Relevanz von „Mutzenbacher“ zweifellos gegeben.

    Bleibt die Frage, wie man sich so einem Stoff nun annähert. Die Ausführung wirkt hier teils recht verspielt und spontan. Die Männer vor der Kamera beteiligen sich an Rollenspielen, erzählen von persönlichen Erfahrungen, geraten in Diskussionen, stolpern und stammeln, reiben sich am Material, das ihnen vorgesetzt wird.
    Doch Beckermann führt ihre Protagonisten keinesfalls vor, sondern begegnet ihnen stets mit Interesse, Aufgeschlossenheit und Einfühlsamkeit. Das Ergebnis ist manchmal berührend, zum Nachdenkend anregend und sorgt für schallendes Gelächter. Es mag irritieren oder beschämen, doch zeugt zugleich an jeder Stelle von dem Mut der Männer, die sich vor die Kamera wagen.
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    04.01.2023
    17:50 Uhr
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    Großartig

    Interessanter könnte man diesen Roman wohl nicht adaptieren. Die Interpretationen der Männer kommentieren sich durch die Montage gegenseitig, es ist unmöglich, sich nicht auch in irgendeiner Form zu ihnen zu verhalten. Interessant auch der immer wieder von verschiedenen Männern geäußerte Fortschrittsgedanke, dass manche Dinge in der Vergangenheit so gewesen seien und das zum Glück heute nicht mehr so sei, der meiner Meinung nach abzulehnen ist.
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    24.11.2022
    15:18 Uhr
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    Männer und die Pornographie

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
    Eigentlich hätte es nur ein Casting sein sollen. Aber nun sitzen in Ruth Beckermanns neuestem Dokumentarfilm „Mutzenbacher, der auf der Berlinale in Encounters seine Premiere feierte, eine Reihe an Männern allen Altersgruppen auf einer rosa Couch und diskutieren über Sex. Spezifisch gesagt, den Sex im Skandalroman „Josefine Mutzenbacher“ aus dem Jahr 1906, den Beckermann angeblich verfilmen will. Das Buch, das gemeinhin Felix Salten zugeschrieben wird, handelt von Kinderprostitution, Missbrauch und Inzest. Aber es ist ebenso ein früher Klassiker der pornographischen Literatur, und verfolgt die Erlebnisse der Wiener Prostituierten im 19. Jahrhundert.

    Wie steht man als Mann zu dem Quellmaterial? Beckermann fragt nicht, warum eine Reihe unterschiedlicher Laien bei so einem Film überhaupt mitspielen würden. Sie nutzt die Ausgangslage des Romans, lässt provokante Textpassagen lesen, Szenen nachstellen und befragt ihre Gegenüber, wo sie die Parallelen in ihrem eigenen Sexualleben sehen. Hier ergibt sich eine umfangreiche Bandbreite an Erfahrungen, die den Film so vielschichtig machen. Die jüngeren Männer, die teils etwas prüde bis zur Hochzeit waren. Ein Typ, der mit seinen etwas unglaubwürdigen Sexgeschichten prahlt. Ein älterer Herr, der sehnsüchtig auf die Zeit zurückblickt, als Frauen „noch richtige Männer wollten“, und „toxische Männlichkeit“ noch kein Ding war.

    Beckermann führt ihre Gegenüber jedoch nie vor, hakt nur selten nach, wenn Antworten sie überraschen. So sind oft jene Minuten am lustigsten, wie wenn ein selbstdeklarierter Opa zwar ablehnt alte Wiener Sexbegriffe in den Mund zu nehmen, im Falle, dass seine Enkel den Film sehen, aber dann voller Inbrunst die Sexszene mit der Mutter vorliest. Das rosa Sofa, auf den die Männer Platz nehmen, erinnert auch nicht von ungefähr an ein simples Pornosetting, macht das Visuelle weicher, und schafft einen visuellen Widerspruch zu den teilweise heftigeren Diskussionen. In anderen Momenten gruppiert sie alle Kandidaten in einem Raum, um sie dort im Chor als schmutzig empfundene Begriffe für Geschlechtsorgane ausrufen zu lassen.

    Kenner der österreichischen Filmlandschaft dürfen sich bei diesem unterhaltsamen, kurzweiligen Film auch über bekannte Gesichter auf der Casting Couch freuen. So viel darf schon mal verraten sein. „Mutzenbacher“ mag zwar nicht ein so komplexer gesellschaftlicher Diskurs sein wie Beckermanns Dokumentarpreisgewinner „Waldheims Walzer“. Dennoch eröffnet er einen behutsamen Blick auf die Diskrepanz zwischen männlicher Sexfantasie und tatsächlicher Erotik.
    Diese Gedanken kommen einfach, gibt ein Mann zu, als er zum Thema Sexualisierung von Kindern befragt wird. „Sobald da erste Anzeichen von Weiblichkeit sind.“ Aber dann würde man diese sofort zur Seite schieben. Sein Gesprächspartner hingegen lehnt vehement ab, junge Frauen unter 18 je sexuell attraktiv gefunden zu haben. Man muss unweigerlich glauben, dass letzterer hier was vormacht. Einen Hauch von Anstand zu verkaufen bemüht ist.
    Aber falsche Moral ist ein Problem, dass die Pornographie schon Jahrzehnte von einer ernsthaften Auseinandersetzung abgehalten hat. Daher ist ein Film, wie ihn Ruth Beckermann hier macht, umso wichtiger und interessanter.
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    14.02.2022
    08:57 Uhr