Das weiße Band

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Heimo (07.04.2010 14:30) Bewertung
Das weiße Band
Mein erster Eindruck war eher ein Werk Lars Von Triers zu sehen, und nicht den neuen Film von Michael Haneke. Die Erzählstruktur gleicht einem „Dogville“ oder „Manderlay“, doch dadurch, dass Haneke keinen unbeteiligten Erzähler, sondern einen seiner Hauptdarsteller die Geschehnisse erklären lässt, ist der Zuseher noch näher an den Protagonisten. Der Herr Baron, gefürchtet und geachtet von den Bauern, da sie finanziell abhängig sind, ist neben dem Herrn Pfarrer und dem Herrn Doktor das Oberhaupt des Dorfes. Sympathie kann man für keinen dieser Herren empfinden. Der Baron genießt die Macht, die er über ein ganzes Dorf ausübt, und so gibt es natürlich zahlreiche Neider, die zum Beispiel seinen Sohn misshandeln, oder eine seiner Scheunen niederbrennen. Der protestantische Pfarrer, der seine Kinder bei Ungehorsam mit der Rute züchtigt, und ihnen ein weißes Band als Zeichen der Unschuld um den Arm bindet während er seinen ältesten Sohn nachts ans Bett festbindet, damit dieser nicht seine körperlichen Bedürfnissen befriedigt, kann wohl auch nicht als liebender Vater bezeichnet werden. Doch der Herr Doktor weiß noch eines draufzusetzen. Seine Frau ist schon vor Jahren gestorben, so benutzt er seine damalige Geliebte, die Hebamme des Dorfes, als Haushälterin, Arztpraxisgehilfin und Haushure. Das obwohl er sie verabscheut und hasst, und ihr dies bei jeder Gelegenheit auch zu verstehen gibt. Frauen haben zu dieser Zeit aber kaum Möglichkeiten, aus dieser von Männern beherrschten, stumpfsinnigen Welt zu fliehen, und da die Hebamme auch noch einen vermutlich vom Doktor gezeugten behinderten Sohn pflegt, dem später von Unbekannten die Augen ausgestochen werden, sind ihr die Hände gebunden, denn der Hausherr sorgt zumindest finanziell für die Familie. Die älteste Tochter des Herrn Doktor ist das einzige Kind, welches nicht „Herr Vater“, sondern „Papa“ sagt. Was zunächst wie eine für unsere Zeit recht normale Vater-Kind-Beziehung wirkt, stellt sich später als widerwärtiger Missbrauchsfall heraus. Um als Zuseher nicht in Fassungslosigkeit zu versinken, wird die Geschichte aus der Sicht des jungen Dorflehrers erzählt. Zwischen ihm und dem Kindermädchen des Herrn Baron entwickelt sich langsam eine aufrechte Liebe, die für kurze Zeit der brutalen Geschichte durchaus schöne Momente verleiht. Als der Lehrer den zahlreichen Schuldigen für die schrecklichen Taten im Dorf immer näher zu kommen scheint, und er dem Herrn Pfarrer seine Theorien offenbart, wird dem Lehrer jedoch gedroht und Verschwiegenheit befohlen. Gegen eine ganze Gesellschaft, die von Vorurteilen und Hass geprägt ist, kann ein einzelner Mann eben nichts ausrichten, und so gibt es bei „Das weiße Band“ neben dem nicht eindeutigen Beginn, auch keinen mit Erklärungen aufwartenden Schluss, es ist ein Sittengemälde, ein Einblick in einen Mikrokosmos menschlicher Abgründe. Der Film könnte durchaus als Psychothriller vermarktet werden, denn an Spannung und Atmosphäre fehlt es ihm an keiner Stelle. Einzig die Szene, in der ein Junge im Gespräch mit seiner großen Schwester die Bedeutung von Tod erfährt, wirkt gekünstelt und unpassend. Unübertroffen an Perversion und Verachtung wird die Auseinandersetzung zwischen Arzt und Hebamme in Erinnerung bleiben, denn was hier der Dame verbal in den Kopf geprügelt wird, hat so intensiv wohl noch in keinem Film zuvor Platz gefunden.
Auszug aus der Blu-Ray-Reviewweiterlesen
 
 

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