Fallende Blätter

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Forumseintrag zu „Fallende Blätter“ von Andretoteles

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Andretoteles (15.09.2023 14:56) Bewertung
Ein Lichtblick in industrieller Tristesse
Exklusiv für Uncut
„Alle Männer sind Schweine“ – „Nein, denn Schweine sind intelligent!“ Dass Aki Kaurismäki seine Filme mit politischen Botschaften unterlegt, zeigt er auch in seinem neuen Werk „Fallende Blätter“. Der Dialog präsentiert nicht nur das vordergründige Thema seines neuen Films, die Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern korrigiert ganz nebenbei das landläufige Vorurteil über die vermeintliche Dummheit von Schweinen. Tierethik und Massentierhaltung werden zurecht hellhörig. Der finnische Auteur (Regisseur und Drehbuchautor zugleich) schafft wie kein Zweiter den Spagat zwischen generalistischer Handlung und subversiv-subtiler Nachricht.

Hauptsächlich dreht sich die Handlung um Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen), die mit den Problemen unserer Zeit konfrontiert sind. Beide kommen in der kapitalistischen Arbeitswelt schwer zurecht. Ansa ist beschäftigt in einem Null-Stunden-Vertrag, ein für Arbeitergebende vorteilhafter Vertrag, bei dem die angestellte Person nur bei Bedarf eingesetzt und vergütet wird. Eine vollkommen unsichere Situation mit hohem finanziellem Risiko, das für Ansa durch eine absurde Kündigung verschärft wird. Auch bei der Entlassung gelingt Kaurismäki die unaufgeregte Kritik heutiger Lebensmittelverschwendung, schon früher hat er sich gegen Umweltzerstörung in Finnland ausgesprochen. Eine berührende Szene, in der Ansa alle Stromstecker zieht, nachdem sie einen Brief erhalten hat, verbindet die Geldsorgen mit der Inflations- und Energiepreiskrise. Kaurismäki arbeitet am Zahn der Zeit. Aus dem Radio schallen mehrfach Reportagen aus den ukrainischen Kriegsgebieten. Externe geopolitische Einflüsse durchbrechen den Mikrokosmos unserer Hauptcharaktere.

Holappa hingegen kämpft gegen sein eigenes Laster, seine Alkoholsucht, wegen derer er häufig seine Arbeitsstelle wechseln muss. Eines Tages verletzt er sich an einer Maschine, die aus Kostengründen nicht gewartet wurde. Kapitalismus-Rüge mit der Brechstange. Doch Holappas mehrfache Kneipenbesuche, das in Finnland äußerst beliebte Karaoke und sein Arbeitskollege lockern die triste Grundstimmung regelmäßig auf. Neben all den kritischen Untertönen besticht der Streifen durch knappe Dialoge und trockenen Humor. Bei einem Kneipenbesuch schließlich treffen sich Ansa und Holappa. Blicke kündigen Zuneigung an. Fokus auf den Mikrokosmos. Die beiden gehen ins Kino, kennen aber nicht ihre Namen, Holappa verliert Ansas Telefonnummer, Alkohol ist ein Thema. Ihr Weg ist steinig, aber beide sind sich sicher: Es ist der einzige Weg zu einem besseren Leben – bis kurz vor dem Ende sogar das erste und einzige Mal in diesem Film gelacht wird.

„Fallende Blätter“ ist der Abschluss von Kaurismäkis sogenannter proletarischer Reihe, deren letztes Werk 1990 gezeigt wurde. Er inszeniert das Leben in urbanen Räumen, die Unsicherheit in zunehmender Komplexität, das alltägliche Hamsterrad, das proletarische Lohnarbeiten in entfremdeten Berufen, Ausbeutung durch korrupte Autoritäten. Ja, auch marxistische Begriffe passen und gehören zu diesem Werk. Gesucht wird der Platz des Menschen in der modernen, postindustrialisierten Welt. Mit nur 80 Minuten Laufzeit ein kurzweiliger Einblick mit ruhigem Witz. Kein revolutionärer, aber ein intelligenter, melancholischer, gleichermaßen optimistischer und pessimistischer Film, der dank des Preises der Jury in Cannes und sehr guter Kritiken internationale Aufmerksamkeit gewinnen konnte. Und in dem Kaurismäki beides formuliert: klare Kapitalismus- und Gesellschaftskritik neben einer berührenden, stillen Beziehungsgeschichte.
 
 

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