Slow

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Forumseintrag zu „Slow“ von UR_000

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UR_000 (17.02.2024 10:18) Bewertung
Zeitgenössischer Beziehungstanz
In ihrem zweiten Spielfilm „Slow“ stellt die litauische Regisseurin Marija Kavtaradze ein romantisches Paar ins Zentrum, das nicht in eine typische RomCom passt: Tanzlehrerin Elena und den Gebärdendolmetscher Dovydas. So eine ist ihre Arbeit auch nicht, obwohl sie viele humorvolle Szenen und Einfälle bietet. Belohnt wurde sie mit einer Auszeichnung beim Sundance Festival.

Vorbilder
Im Q & A hat die Regisseurin ein wenig über die Vorbilder für ihren Film und das Drehbuch verraten. Dazu zählen Andrew Haigh (vor allem „Weekend“, aktuell also nicht rechtzeitig als Orientierung „All of Us Strangers“) und atmosphärisch Sally Rooneys Roman „Normal People“ – nicht so sehr die Serien-Adaption. In den Medien wird auch Joachim Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“ als Referenzwerk genannt.

Beziehungsszenarien außerhalb des Normativen
Elena und Dovydas sind nur oberflächlich, von außen betrachtet, ein perfektes Paar auf dem Weg zum Happy End. Doch „Slow“ geht in die Tiefe, zeigt die Herausforderungen, die sich aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse und Erwartungen einstellen. Vor allem, wenn ein Partner nicht ganz so „normal“ ist.

When Boy Meets Girl
Dabei beginnt die Liebesgeschichte von „Slow“ nach dem klassischen Muster. Elena lernt Dovydas bei ihrem Tanzkurs für gehörlose Jugendliche kennen, weil er als ihr Dolmetscher arbeitet. Fasziniert und noch etwas schüchtern, verabschiedet er sich, nur um sich umzudrehen, magisch angezogen scheint es, und Elena zu einem Spaziergang zu überreden. Schnell wird klar, die beiden verstehen einander gut, haben Chemie. Sie kommunizieren in verschiedenen Sprachen, ihren eigenen Sprachen, nicht unbedingt akustisch. Wunderbare Gesten, die hängen bleiben. Ein Happy End in einer glücklichen Paarbeziehung ist zum Greifen nahe. Bis Dovydas Elena eröffnet, dass er asexuell ist. Ein Schock für Elena, die sich nach Bewunderung und körperlichem Kontakt sehnt, ihre Sinnlichkeit und Sexualität ausleben möchte.

Intimes Herantasten
Doch die beiden merken, dass es miteinander besser ist. Also wagen sie das Experiment Beziehung. In intimen Bildern, langsam, sinnlich, fängt die Kamera dieses physische und mentale Ausprobieren ein. Vorsichtig werden Grenzen ausgelotet. Blicke werden getauscht, Küsse. Aber nie solche, die auf Lust und Anziehungskraft basieren. Den beiden Hauptdarstellern gelingt es, diese Art von Liebe spürbar zu machen, die nicht auf sexuelles Begehren abzielt. Gerade diese Zartheit, eigentlich Zerbrechlichkeit, zieht einen in den Bann. Macht „Slow“ trotz des langsamen Tempos – das sich im körperlichen Herantasten der Protagonisten spiegelt – spannend.

Sprachen-Vielfalt
„Slow“ arbeitet mit verschiedenen Mitteln des Ausdrucks und der Sprache, stellt die Körperlichkeit ins Zentrum. Langsam, genau, im Detail. Elena ist Tänzerin, verarbeitet ihre Gefühle in Bewegung. Der Tanz spielt ebenfalls auf Sinnlichkeit und sexuelle Anziehung an, ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, wenn mehrere Personen miteinander tanzen. Immer wieder zeigt die Regisseurin Bilder solcher zeitgenössischen Tänze. Elena und ihre Sprache. Gleich zu Beginn stellt sie dem Publikum eine von Dovydas‘ Sprachen vor: Er übersetzt einen Lovesong in Gebärdensprache. Ein wunderbarer Meta-Kommentar, denn einiges aus dem Song findet sich thematisch im Film wieder.
Mit Präzision und einem Gefühl für Atmosphäre arbeitet „Slow“ die beiden Welten und gleichzeitig Sprachen heraus. Als Laie beobachtet man fasziniert, wie die Hände Worte formen, aber auch wie sich Gefühle in tanzenden Bewegungen ausdrücken.

Mit Musik schweben
Positiv fällt auch der Soundtrack auf. Lieder von poppig bis rhythmisch und mystisch unterstreichen die Geschichte. Zum Schwelgen und Nachdenken.

Humorvolle Atempausen
Fast möchte man nicht mehr zu den schwierigen Aspekten der Beziehung zurückkehren. Muss man auch nicht. Dazwischen gibt es zwar nicht völlig unbeschwerte, aber lustige Szenen. Oft durch schräge Nebenfiguren wie Elenas Ex-Freund, der zu tief ins Glas geschaut hat. Manchmal auch in Form von Gesten und Alltagsmomenten zwischen Elena und Dovydas.

Von Beziehungsmustern und Beziehungsfragen
Märchen und doch nicht so märchenhaft. Die magische Anziehung ist zu spüren. „Slow“ stellt die Frage, ob sie der Spannung zwischen Erwartungen, Bedürfnissen und Wünschen standhalten kann. Eine Frage, die sich in dieser einen Liebesgeschichte zeigt, die aber viel universeller ist. Eine Frage, die der Film mit „Liebe“ und Fingerspitzengefühl zu beantworten versucht und dabei emotionale Kraft entwickelt. Dringlich, zärtlich und zerbrechlich.

Fazit
Ein Erlebnis, das ohne laute Action oder allzu plumpen Humor auskommt, ganz auf die Kraft der Emotionen, Figuren, Schauspieler, Bilder und ein wenig auf die der Musik setzt. Eine Geschichte, die Fragen stellt, fast schon ein Lebensgefühl vermittelt. „Slow“ ist eigenständig, einzigartig, braucht den Vergleich mit großen Vorbildern und Referenzwerken aber nicht zu scheuen. Klein und großartig.
 
 

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