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    Zeitgenössischer Beziehungstanz

    In ihrem zweiten Spielfilm „Slow“ stellt die litauische Regisseurin Marija Kavtaradze ein romantisches Paar ins Zentrum, das nicht in eine typische RomCom passt: Tanzlehrerin Elena und den Gebärdendolmetscher Dovydas. So eine ist ihre Arbeit auch nicht, obwohl sie viele humorvolle Szenen und Einfälle bietet. Belohnt wurde sie mit einer Auszeichnung beim Sundance Festival.

    Vorbilder
    Im Q & A hat die Regisseurin ein wenig über die Vorbilder für ihren Film und das Drehbuch verraten. Dazu zählen Andrew Haigh (vor allem „Weekend“, aktuell also nicht rechtzeitig als Orientierung „All of Us Strangers“) und atmosphärisch Sally Rooneys Roman „Normal People“ – nicht so sehr die Serien-Adaption. In den Medien wird auch Joachim Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“ als Referenzwerk genannt.

    Beziehungsszenarien außerhalb des Normativen
    Elena und Dovydas sind nur oberflächlich, von außen betrachtet, ein perfektes Paar auf dem Weg zum Happy End. Doch „Slow“ geht in die Tiefe, zeigt die Herausforderungen, die sich aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse und Erwartungen einstellen. Vor allem, wenn ein Partner nicht ganz so „normal“ ist.

    When Boy Meets Girl
    Dabei beginnt die Liebesgeschichte von „Slow“ nach dem klassischen Muster. Elena lernt Dovydas bei ihrem Tanzkurs für gehörlose Jugendliche kennen, weil er als ihr Dolmetscher arbeitet. Fasziniert und noch etwas schüchtern, verabschiedet er sich, nur um sich umzudrehen, magisch angezogen scheint es, und Elena zu einem Spaziergang zu überreden. Schnell wird klar, die beiden verstehen einander gut, haben Chemie. Sie kommunizieren in verschiedenen Sprachen, ihren eigenen Sprachen, nicht unbedingt akustisch. Wunderbare Gesten, die hängen bleiben. Ein Happy End in einer glücklichen Paarbeziehung ist zum Greifen nahe. Bis Dovydas Elena eröffnet, dass er asexuell ist. Ein Schock für Elena, die sich nach Bewunderung und körperlichem Kontakt sehnt, ihre Sinnlichkeit und Sexualität ausleben möchte.

    Intimes Herantasten
    Doch die beiden merken, dass es miteinander besser ist. Also wagen sie das Experiment Beziehung. In intimen Bildern, langsam, sinnlich, fängt die Kamera dieses physische und mentale Ausprobieren ein. Vorsichtig werden Grenzen ausgelotet. Blicke werden getauscht, Küsse. Aber nie solche, die auf Lust und Anziehungskraft basieren. Den beiden Hauptdarstellern gelingt es, diese Art von Liebe spürbar zu machen, die nicht auf sexuelles Begehren abzielt. Gerade diese Zartheit, eigentlich Zerbrechlichkeit, zieht einen in den Bann. Macht „Slow“ trotz des langsamen Tempos – das sich im körperlichen Herantasten der Protagonisten spiegelt – spannend.

    Sprachen-Vielfalt
    „Slow“ arbeitet mit verschiedenen Mitteln des Ausdrucks und der Sprache, stellt die Körperlichkeit ins Zentrum. Langsam, genau, im Detail. Elena ist Tänzerin, verarbeitet ihre Gefühle in Bewegung. Der Tanz spielt ebenfalls auf Sinnlichkeit und sexuelle Anziehung an, ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, wenn mehrere Personen miteinander tanzen. Immer wieder zeigt die Regisseurin Bilder solcher zeitgenössischen Tänze. Elena und ihre Sprache. Gleich zu Beginn stellt sie dem Publikum eine von Dovydas‘ Sprachen vor: Er übersetzt einen Lovesong in Gebärdensprache. Ein wunderbarer Meta-Kommentar, denn einiges aus dem Song findet sich thematisch im Film wieder.
    Mit Präzision und einem Gefühl für Atmosphäre arbeitet „Slow“ die beiden Welten und gleichzeitig Sprachen heraus. Als Laie beobachtet man fasziniert, wie die Hände Worte formen, aber auch wie sich Gefühle in tanzenden Bewegungen ausdrücken.

    Mit Musik schweben
    Positiv fällt auch der Soundtrack auf. Lieder von poppig bis rhythmisch und mystisch unterstreichen die Geschichte. Zum Schwelgen und Nachdenken.

    Humorvolle Atempausen
    Fast möchte man nicht mehr zu den schwierigen Aspekten der Beziehung zurückkehren. Muss man auch nicht. Dazwischen gibt es zwar nicht völlig unbeschwerte, aber lustige Szenen. Oft durch schräge Nebenfiguren wie Elenas Ex-Freund, der zu tief ins Glas geschaut hat. Manchmal auch in Form von Gesten und Alltagsmomenten zwischen Elena und Dovydas.

    Von Beziehungsmustern und Beziehungsfragen
    Märchen und doch nicht so märchenhaft. Die magische Anziehung ist zu spüren. „Slow“ stellt die Frage, ob sie der Spannung zwischen Erwartungen, Bedürfnissen und Wünschen standhalten kann. Eine Frage, die sich in dieser einen Liebesgeschichte zeigt, die aber viel universeller ist. Eine Frage, die der Film mit „Liebe“ und Fingerspitzengefühl zu beantworten versucht und dabei emotionale Kraft entwickelt. Dringlich, zärtlich und zerbrechlich.

    Fazit
    Ein Erlebnis, das ohne laute Action oder allzu plumpen Humor auskommt, ganz auf die Kraft der Emotionen, Figuren, Schauspieler, Bilder und ein wenig auf die der Musik setzt. Eine Geschichte, die Fragen stellt, fast schon ein Lebensgefühl vermittelt. „Slow“ ist eigenständig, einzigartig, braucht den Vergleich mit großen Vorbildern und Referenzwerken aber nicht zu scheuen. Klein und großartig.
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    17.02.2024
    10:18 Uhr
  • Bewertung

    Die Sache mit Platon

    Exklusiv für Uncut vom Sundance Film Festival
    „Slow“ ist der zweite Langfilm der litauischen Filmemacherin Marija Kavtaradze. Die Protagonisten sind Elena (Greta Grinevičiūtė), eine Tanzlehrerin, deren Äußeres nicht unbedingt dem Berufsbild entspricht wie sie selbst sagt und Dovydas (Kęstutis Cicėnas), ein feinfühlig-humorvoller Gebärden-Dolmetscher. Die beiden lernen sich kennen, als er eine ihrer Klassen übersetzen soll. Vom ersten Augenblick kreieren sie eine Verbindung, die schnell über eine Freundschaft hinausgeht, als Dovydas Elena eröffnet, dass er asexuell ist.

    Kavtaradze zeigt, was zwei Liebende verbindet, wie sie miteinander umgehen und sprechen, wie sie merken, dass einer im anderen etwas bisher Verborgenes zum Vorschein bringt und wie schön das ist. Ihr scheint als würde sie Dovydas schon ihr ganzes Lebens lang kennen, erzählt Elena einer Freundin. Beide haben sozial-künstlerische Berufe und kommunizieren sehr viel mit dem Körper. Beide scherzen darüber, dass sie wohl nicht so intelligent seien, „aber nicht jeder könne ein Doktor werden“.

    Tatsächlich verfügen beide aber zumindest über eine außerordentliche emotionale Intelligenz. Einmal erzählt Dovydas, dass seine Mutter ihm immer geraten habe zu Mc Donald’s zu gehen, wenn er traurig sei. Nachdem beide Elenas Mutter besucht hat, eine emotional kalte Person, die Elena sehr distanziert behandelt, beugt sich Dovydas zu Elena und sagt: „Gehen wir zu Mc Donald’s?“ Es sind viele dieser kleinen, liebevollen Momente, die nicht nur den Protagonist*innen, sondern auch dem Zuseher ein geborgenes Gefühl geben.

    Aber natürlich, und das ist ebenfalls nicht zu übersehen: Dovydas „Outing“ ist ein Problem für Elena. Elena, die bisher keine ernsthafte Partnerschaft eingegangen ist, sondern viele, auch rein sexuelle Beziehungen hatte, die sich gar keine fixe Partnerschaft gewünscht hat. Oder wie ein Kollege sagt: Nach einem Monat findet sie jeden Mann langweilig. Nur Dovydas, den findet Elena keineswegs langweilig, was allerdings nichts daran ändert, dass Sexualität einen großen Stellenwert in ihrem Leben einnimmt und gar keinen in Dovydas Leben. Hier einen Kompromiss zu finden ist schwierig. Obwohl sie es nicht möchte, fühlt sich Elena von Dovydas zurückgewiesen und zunehmend unattraktiv.

    Elena recherchiert im Internet, sie versucht zu verstehen und Antworten zu finden, vielleicht eine Lösung. Trotz der Asexualität, und es ist durchaus erfrischend, dass hier der Mann derjenige ist, der keinen Sex möchte, haben sie sehr viel Körperkontakt. Sie umarmen und küssen sich, liegen stundenlang im Bett, sie berühren sich sehr viel, sind sich nahe. Die Versuche allerdings, die über das Kuscheln hinausgehen, laufen ins Leere. Bis auch die Option im Raum steht, Liebe und Sexualität zu trennen.

    Auch wenn sich wohl vergleichsweise wenige Beziehungen dem Thema Asexualität stellen müssen, so hat doch jede Partnerschaft ihre speziellen Herausforderungen. Es gibt, so entdecken Elena und Dovydas, keine „normalen“ Beziehungen. Zwei Menschen, die zusammen sein wollen, müssen immer auch zusammen wachsen. „Slow“ ist ein wunderschöner Film, der mit bescheidenen Mitteln und zwei beeindruckenden Hauptdarsteller*innen eine universelle Geschichte erzählt. „Slow“ ist auch Plädoyer dafür, die besondere Verbindung, die zwei Menschen miteinander haben, selbst dann nicht aufzugeben, wenn manche Hindernisse unüberwindbar erscheinen.

    P.S. Nebenbei erwähnt: „Slow“ ist schon die zweite Produktion beim heurigen Sundance Festival, in dem der Songcontest ein Thema ist.
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    27.01.2023
    10:57 Uhr