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Heidi@Home: Liebe und Anarchie

Heidi@Home: Liebe und Anarchie

Die Serie „Liebe und Anarchie“ betreibt Etikettenschwindel im großen Stil – und flüchtet sich in angestrengten Surrealismus
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von (Heidi@Home)
Es ist ja so: Wenn man auf Netflix eine neue schwedische Serie sieht, hat man dieses positive Vorurteil: Ah endlich was anderes als Hollywood, einmal ein anderer als der US-Blickwinkel auf die Welt, ein kleines bisschen nordisches Arthouse. Die Skandinavier haben sicher etwas schrullig-liebenswertes, vielleicht leicht düsteres erschaffen, dass man an einem verregneten Wochenende gern binge-watchen möchte. Oft wird diese Erwartungshaltung auf angenehme Weise bestätigt und man hat ein kleines filmisches Juwel gefunden, in diesem Fall ist es aber leider nicht so.

Worum gehts? Die Hauptfigur Sofie ist irgendwo in ihren End-30er, verheiratet, zwei Kinder, lebt in einer teuren, steril eingerichteten Wohnung, ist extrem erfolgreich als Unternehmensberaterin und soll nun einen angeschlagenen Literaturverlag fit für das digitale Zeitalter machen. So weit so chic, doch schon in der ersten Szene der ersten Folge - kurz bevor Sofie zu ihrem ersten Arbeitstag im neuen Unternehmen aufbricht - erkennt man die Bruchstellen der Hipster-Idylle. Da geht Sofie mit einer Tasse Kaffee ins Bad und versperrt die Türe, um zu Youporn oder einer anderen einschlägigen Plattform erstmal hektisch zu masturbieren, als wäre das ein weiteres lästiges to do auf der Liste, während draußen das morgendliche Alltagschaos weitertobt. Im Verlag angekommen, beginnt sie recht bald einen bizarren Flirt mit dem deutlich jüngeren IT-Experten Max (Liebe?). Die beiden stellen sich unangenehme bis richtig peinliche Aufgaben, um die gegenseitige sexuelle Anziehungskraft zu kanalisieren (Anarchie?)

Liebe und Anarchie
„Liebe und Anarchie“ (Netflix)


Von Beginn an denkt man/frau sich: Wo soll das nur hinführen? Und auch nach zwei Staffeln weiß man das nicht. Es krankt an mehreren Stellen, die Wichtigste: Die ProtagonistInnen bleiben einem erstaunlich fremd. Ja man sieht, dass Sofie unglücklich ist, dass sie sich ihr Leben anders vorgestellt hat, und auf der Suche nach einer Wende ist. Doch die Autoren lassen uns nicht in ihre Seele blicken. Wir sehen nur ihre eher infantilen Wutausbrüche und den darauffolgenden trotzigen Rückzug, wir erfahren aber nichts über ihre Gedanken und Gefühle, Sehnsüchte oder Träume. Auch nicht durch ihre Rebellion, in der Serie „Anarchie“ genannt. Doch wenn man älter als (großzügig geschätzt) 25 ist, dann geht das bestenfalls als juveniler Unsinn durch. Genaugenommen war Michel aus Lönneberga mehr Punk. Nichts ändert sich durch diese Form der „Anarchie“, nicht die Gesellschaft, nicht der Mikrokosmos der Verlagsbranche - ja noch nicht einmal Sofie selbst. Es bewirkt nichts, lässt niemanden wachsen und sich weiterentwickeln.

Für Max gilt ähnliches. Er hatte eine schwere Kindheit (ja...) und ein Mutter-Thema, dass er durch Pflanzenanbau unter Zuhilfenahme von LED-Scheinwerfern, sowie eher wahllosem Cunnilingus im örtlichen Fitnesscenter zu bewältigen versucht. Doch auch er bleibt merkwürdig blass und klischiert. Einmal begleiten wir ihn zu einem Besuch bei seiner Familie, wo uns Zusehern demonstriert werden soll, was Max uns, respektive Sofie, schon erzählt hat, dass er für seine Mutter nie gut genug war oder ist. Das Problem ist nur: es wird eben nicht in subtilen Bilder gezeigt, und damit das Medium Film optimal genutzt, es wird alles erklärt und zerredet. Die Mutter bezeichnet ihn als Enttäuschung, als Menschen, der einfach nichts richtig machen kann, und zwar auf eine so plakative Art und Weise, dass man sich die Regieanweisungen vor dem Drehen dieser Szene so richtig gut vorstellen kann. Da hilft auch Full Frontal Nudity nicht weiter.

Liebe und Anarchie
„Liebe und Anarchie“ (Netflix)


Um nicht ungerecht zu sein: Die Serie hat hin und wieder ihre charmanten Momente und sorgt für ein paar Schmunzler, beispielsweise wenn der Verlag von einem Streaming-Dienst gekauft werden soll (und das auf einem Streaming Sender zu sehen ist) und es dabei einen Menge an kulturpessimistischem Diskurs gibt. Oder wenn Max herausfindet, dass Sofie ein Faible für Cyndi Lauper hat, wofür sie sich geniert, und ihr eine dementsprechende Aufgabe stellt. Das ist ganz süß, wenn man in den 80ern aufgewachsen ist. Die Schauspieler*innen sind bemüht in dem was sie tun, und großteils damit auch erfolgreich; gerne habe ich den naiv-gerissenen Verlagschef Ronny gesehen, der sich als „alter weißer Mann“ bewusst woke gibt, tatsächlich aber wohl mehrfach „Aus dem Leben eines Taugenichts“ gelesen hat.

Ach ja und der Surrealismus: Der kommt zum Zug, wenn die Autoren nicht mehr weiterwissen. Wenn sie eine Szene nicht psychologisch durchleuchten wollen, sondern sich offenbar denken, sie erfinden jetzt etwas so Absurdes, dass die Zuseher*innen mit der Interpretation dieser Groteske so abgelenkt sind, dass sie die Schwächen des Drehbuches vergessen. Aber leider ist dieser Surrealismus nicht interessant und originell, sondern eben vor allem eines: sehr gewollt.

„Liebe und Anarchie“ hat bisher zwei Staffeln zu je acht Folgen und ist auf Netflix zu sehen.