Filmkritik zu The Outrun

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  • Bewertung

    Tränen, Alkohol und das Meer – Auf Entzug auf den schottischen Inseln

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    Mit der Zeitlichkeit verhält es sich ja so, dass die Vergangenheit unsere Gegenwart unweigerlich prägt und Optionen für die Zukunft öffnet oder schließt. Aber was, wenn die Vergangenheit eine starke Blockade für das Leben im Hier und Jetzt darstellt? Kann man Geschehenes hinter sich lassen und damit abschließen?

    Nora Fingscheidts neuester Film mutet sich diesem Thema an. Nachdem die deutsche Regisseurin mit der Netflix-Produktion „Systemsprenger” internationale Bekanntheit erlangte und deswegen darauf der Spielfilm „The Unforgivable” folgte – ebenfalls eine Zusammenarbeit mit dem Streamingdienst und mit Sandra Bullock in der Hauptrolle – feierte 2024 „The Outrun” die Europa-Premiere auf der Berlinale.

    Die junge Rona (Saoirse Ronan) studiert eigentlich in London und hat sich schon seit 10 Jahren in ihrer Heimat, den schottischen vom Festland abgelegenen Orkney-Inseln, nicht mehr blicken lassen. Jetzt kehrt sie nach einem Vorfall, der mit ihrer Alkoholsucht zusammenhängt, zurück. Ihre Eltern sind mittlerweile geschieden, deswegen wohnt sie bei ihrer sehr religiösen Mutter im Haus und hilft in der Schafzucht ihres bipolaren Vaters aus. Aber selbst zurückgezogen in einsamer Isolierung und anmutender Natur ist der Prozess der Genesung kein einfacher Pfad.

    In Interviews betont Fingscheidt immer wieder, dass es sich bei „The Outrun” um einen europäischen Film handelt: Sie und ihr kreatives Kernteam sind deutscher Herkunft, die Produzenten sind Engländer, die Hauptdarstellerin hat irische Wurzeln und die Geschichte selbst spielt in Schottland und wurde von einer Schottin verfasst. Der Film basiert nämlich auf den autobiografischen Memoiren von Amy Liptrot, die das Buch während dem Entzugsprozess schrieb. Und um der realen Geschichte gerecht zu werden, drehte Fingscheidt an den originalen Schauplätzen. Nicht nur die beeindruckenden Landschaften von Schottland werden eingefangen, sondern eben auch in genau jenen Häusern, in denen Liptrot selbst gelebt hat. Auf den Spuren der Realität wirkt dadurch der Spielfilm wahnsinnig authentisch.

    Dieser Eindruck ist aber ebenfalls auf die Menschen vor der Kamera zurückzuführen. Saoirse Ronan gilt schon seit geraumer Zeit als eine der begabtesten neuen Darstellerinnen der Filmbranche. Ihre Performance in „The Outrun” beweist, wie vielschichtig sie ihre Rollen verkörpern kann. Mal eine emotionale Wucht, mal ganz reduziert, immer Präsenz beweisend, scheint es, als würde man eine Dokumentation sehen und keine gestellten Szenen. Und diese dokumentarische Anmutung findet sich auch in der Inszenierung des Films – kein Wunder, hat Fingscheidt bereits mehrere Dokumentationen gedreht. In ihrem dritten Spielfilm lässt sie Ronan immer wieder ruhig im Voice Over über spezifische Themen sprechen, als wäre sie David Attenborough, und untermalt dieses mit eigenen Aufnahmen und Archivmaterial. Damit ist man nicht nur voll eingetaucht in die Immersion des Spielfilms, sondern erfährt Fakten über physikalische Erkenntnisse, wie ab welchem Punkt Wellen brechen, oder welche mythologische Sagen man den auf den Orkney-Inseln weit verbreiteten Seehunden zuspricht. Passend zum Innenleben der Figur weiß die Inszenierung ebenfalls ihr Tempo an ihren Gemütszustand von hektisch und aufbrausend bis beruhigt und friedlich anzupassen. Dadurch kommen die großen Momente angesichts der vielen ruhigen Situationen nochmal besser zum Ausdruck. Vor allem eine Szene, wenn sich Körper und Natur im Einklang befinden, dann ist Gänsehaut-Erfahrung garantiert.

    „The Outrun” widmet sich intensiv dem therapeutischen Heilungsprozess, während das Aufarbeiten in mehreren, strukturierten Flashbacks erzählt wird. Und Fingscheidt weiß, dass dieses Thema keine einfachen Lösungen oder Herangehensweisen bietet. Und eben auch kein Sündenbock wird gefunden. Zwar wird Ronas Hintergrund und familiäres Erbe geschildert, aber nie mit einem erhobenen Zeigefinger. Voller Ambivalenzen fühlt man mit Ronan mit, egal ob sie schöne Momente erlebt oder der Versuchung des Tropfen Alkohols nicht widerstehen kann. Da gelingt dem Film ein total menschlicher und nahbarer Zugang. Er verbindet Religion, Einsamkeit, Spiritualität, Naturverbundenheit und Meditation in ein zusammenhängendes Geflecht – allesamt Werkzeuge und Zugänge für Rona zur psychischen Verarbeitung. Dadurch entfaltet der Film auch eine inspirative Ader und wird selbst zu einer Art Meditation.

    In all der Schwärmerei ist es eine Leichtigkeit, „The Outrun” als Meisterwerk zu bezeichnen. Harte Themen wie die Alkoholsucht widmet er sich seriös und gefühlsbetont, ohne ausschlachtend zu sein und Emotionen aufzuzwingen. Nora Fingscheidts Fingerspitzengefühl ist es zu verdanken, dass der Film so real wirkt, sodass man selbst den Kitsch am Ende verzeiht und sich darauf einlassen kann. Und Saoirse Ronan wird jetzt schon als Oscar-Kandidatin für das nächste Jahr gehandelt – zurecht.
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    (Tobit Rohner)
    25.02.2024
    11:10 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

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