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82.5% Bewertung
  • Ein Selkie am Trockenen

    Weibliche Charaktere, die aus dem sozialen Raster fallen oder am System vorbeiexistieren, liegen stets im Fokus der Filmemacherin Nora Fingscheidt, die mit ihrem radikalen Problemkind-Drama Systemsprenger weltweit auf sich aufmerksam machte. Netflix klopfte an und gab ihr die Regie für den Sandra Bullock-Streifen The Unforgivable, indem der Star eine ehemalige Straftäterin gibt, die im Alltag nicht mehr Fuß fassen kann. Ähnlich geht es nun in ihrem neuesten Werk The Outrun zu. Statt anarchischem Schreihals oder einer zutiefst depressiven Bullock färbt sich diesmal Saoirse Ronan die Haare blau. Wobei die Farbe Blau zumindest in unseren Kreisen hier gerne mit einem Zustand des völligen Kontrollverlusts einhergeht, der dann einsetzt, wenn man zu tief ins Glas geblickt hat. In diesem Film ist Filmcharakter Rona genau so jemand: Eine Alkoholikerin. Als wäre sie eine Kneipenkumpanin von Amy Winehouse gewesen, nur ohne deren Ruhm, war das Gift im Glas auch das Gift für ihre Beziehung, ihre Zukunft, ihr Studium. The Outrun zeigt aber nicht den Verfallsprozess einer jungen Frau, sondern knüpft eigentlich dort an, wo diese das Ruder herumreisst. Den Entzug bereits überstanden, macht sich Rona auf in Richtung Heimat ihrer Kindheit. Und die ist nicht im Londoner Umland, sondern viel weiter weg. Ganz weit draußen im Nordosten der Insel Großbritannien, zu Schottland gehörend und am Ende der Welt: Auf dem Orkney-Archipel.

    Felsen, Strände, ganz viel Küste und sturmgepeitschte See. Wiesen, vereinzelte Steinhäuser und unter Mühsal betriebene Viehbetriebe, wie Ronas Eltern welche führen. Die sind wiederum getrennt, denn Papa ist aufgrund einer bipolaren Störung nicht unwesentlich daran beteiligt, dass seine Tochter so manches aus ihrer Kindheit mitnehmen musste, worauf sie lieber verzichtet hätte. Dennoch ist das Nirgendwo im Takt der Gezeiten genau jene Form von Reduktion, die jemanden wie Rona auch psychisch wieder rebooten kann. Einen Neuanfang unter extremen Witterungen und unter den Blicken der Kegelrobben, von denen manche tatsächlich Selkies sein könnten – Mischwesen aus Mensch und Tier, Gestalten aus der schottischen Mythologie. Wesen, die zwischen den Elementen wandeln, sich jedoch stets nach dem Meer sehnen.

    Saoirse Ronan könnte so jemand sein, natürlich im übertragenen Sinn. Fingscheidt spielt mit dieser Mythologie und mit Ronans Haarfarbe, flechtet sie ein, nimmt sie als Metaebene in die Verfilmung eines autobiografischen Romans auf, den Autorin Amy Liptrot verfasst hat, um über ihre Sucht und die Überwindung selbiger zu schreiben. Mit Ronan mag da die richtige Besetzung gefunden worden sein – ihre Begeisterung für die ungebändigte Natur kann sie transportieren. Die Rolle der Süchtigen allerdings weniger. Dafür umschifft Fingscheidt den Absturz großräumig, streift auch deren Beziehung nur flüchtig. Im Trend liegt derzeit, und das merkt man auch hier, eine gegen die eigentliche Chronologie der Handlung gerichtete Abfolge an Rückblenden zu streuen. Bei The Outrun kommen diese entweder zu früh oder zu spät ins Spiel. Dass Ronans Figur und deren Entwicklung bei gezielterem Timing an Griffigkeit gewonnen hätte, bleibt zu vermuten.

    Anfangs ist es auch so, dass Fingscheidts Drama Mühe hat, zu diesem Thema eine neue Perspektive zu finden. Erst sehr viel später, wenn sich auch die Familiengeschichte offenbart oder Ronan langsam, aber doch, das Trauma des Alkoholkonsums hinter sich lässt, um neue Horizonte zu erschließen, mag der Funke überspringen, mag die Selbstfindung dann auch mitreißen. Im Tosen der Wellen wird der Neuanfang schließlich zur Metapher in Form einer unbegrenzten, naturgebundenen Superkraft, die jeder mobilisieren kann. Vorausgesetzt, die Parameter des Umfelds stimmen.



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    05.11.2024
    16:26 Uhr
  • Tanz und Trauer, Manie und Magie

    Es ist still geworden um die irische Kinoattraktion Saoirse Ronan, die Ende der 2010er Jahre ihren Durchbruch feierte. Mit Brooklyn, Lady Bird und Little Women erlangte sie Anerkennung und drei Oscar-Nominierungen und etablierte sich fest im Filmkosmos. Seitdem wehte der Sturm nicht mehr so stark, braust jetzt aber wieder gehörig auf. In THE OUTRUN spielt sie die junge Frau Rona, die auf den Orkney Inseln aufwächst, später dem Alkoholismus verfällt und schließlich heimkehrt, um sich selbst zu vergeben. THE OUTRUN erzählt mit ungeheurer Wucht eine Geschichte von der menschlichen Kraft, die Irreversibilitäten, die eigentlich nichtreparierbaren Dinge einer Sucht doch zu korrigieren und wiederherzustellen, zumindest für das eigene Selbst. Die Reise beruht auf den autobiographischen Memoiren von Amy Liptrot und inszeniert wird die deutsche Koproduktion von Nora Fingerscheidt. Für sie nach dem „Systemsprenger“-Erfolg jetzt eine große englischsprachige Projekten mit namhaften Beteiligungen.

    Wir erleben eine unglaubliche Saoirse Ronan, sie ist das Zentrum, die Sonne, das Schwarze Loch dieses Werks. Sie saugt alles ein, sie tanzt, sie lacht, stürzt, sie rennt, sie weint, sie blutet - es ist eine herausragende, existenzielle Darbietung. Eine oscarwürdige. Um sie dreht sich alles. Aber sie selbst dreht sich auch um den Inhalt. Sie IST der Inhalt. Die wichtigste Nebenfigur sind die Orkney Inseln, eine kleine Inselgruppe nördlich von Schottland. Dort harmonieren die innere Isolation Ronas und die entschleunigte Landesruhe, aber es prallen auch Ronas innerer Sturm, ihre Manie auf den furiosen Wind, den Schnee und das Wasser. Großartige Bilder von weiten Landschaften und Naturphänomenen am Originalschauplatz bilden den Kontrapunkt und gleichzeitig den Einklang mit Ronas Entwicklung. Doch der Mensch wird in fantastischen Sequenzen nicht vergessen. Es gibt eine unglaublich tolle Szene, wie Rona mit ihrem Freund mit Sturmhauben in einen Pool springt. Vernunft und Revolte widerstreiten in diesem Film. Nicht nur örtlich und personell, auch zeitlich ein Film der Kontraste. Kein linearer Plot, immer wieder unzuverlässige, alkoholbenebelte Rückblenden und Gedankenströme. Letztere sind auch mythologischer und poetischer Natur, Märchen aus der Kindheit verschränken sich mit der schwierigen Situation. Es findet ein metaphysisches Verschmelzen von Stadt und Land statt, von Körper mit Geist, von Vergangenheit mit Gegenwart. Verfilmt wird der Sittenverfall, den schon Rousseau erkannt hat, und auch seine Lösung: Zurück zur Natur!

    Narrative Themen: Verzweiflung und Resignation und Vergeben. Vor allem der müßige und schwerste Weg: sich selbst vergeben, sich selbst Fehler und Schwäche einzugestehen und daraus neue Kraft entwickeln. Es gilt die eigene Identität wiederzufinden, die die Sucht mitgerissen hat. Einzige kleine Schwäche ist der altbekannte Rückgriff auf eine problematische Kindheit. Eine Trope, die filmisch auserzählt ist, hier aber in Verbindung mit der Autobiographie der Wahrheit entspricht. Später kommt es zur Retraumatisierung durch den Vater, dessen Pflegebedarf letztlich aber bei der Verarbeitung der seelischen Erschütterungen hilft. Was das Werk von Nora Fingerscheidt mit einer grandiosen Saoirse Ronan hier explizit schafft: die Vermeidung von Klischees und das kann nicht hoch genug geschätzt werden.

    THE OUTRUN ist Tanz und Trauer, Manie und Magie. Ein aufbrausendes, eindringliches, im wahrsten Sinne stürmisches Drama, das erst wie ein drastischer realistischer, schockierender und gewaltvoller Schlag in die Magengrube daherkommt, um dann zu einer existenziellen Berührung und einer Umarmung zu werden.

    85%
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    25.10.2024
    10:27 Uhr
  • Bewertung

    Tränen, Alkohol und das Meer – Auf Entzug auf den schottischen Inseln

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    Mit der Zeitlichkeit verhält es sich ja so, dass die Vergangenheit unsere Gegenwart unweigerlich prägt und Optionen für die Zukunft öffnet oder schließt. Aber was, wenn die Vergangenheit eine starke Blockade für das Leben im Hier und Jetzt darstellt? Kann man Geschehenes hinter sich lassen und damit abschließen?

    Nora Fingscheidts neuester Film mutet sich diesem Thema an. Nachdem die deutsche Regisseurin mit der Netflix-Produktion „Systemsprenger” internationale Bekanntheit erlangte und deswegen darauf der Spielfilm „The Unforgivable” folgte – ebenfalls eine Zusammenarbeit mit dem Streamingdienst und mit Sandra Bullock in der Hauptrolle – feierte 2024 „The Outrun” die Europa-Premiere auf der Berlinale.

    Die junge Rona (Saoirse Ronan) studiert eigentlich in London und hat sich schon seit 10 Jahren in ihrer Heimat, den schottischen vom Festland abgelegenen Orkney-Inseln, nicht mehr blicken lassen. Jetzt kehrt sie nach einem Vorfall, der mit ihrer Alkoholsucht zusammenhängt, zurück. Ihre Eltern sind mittlerweile geschieden, deswegen wohnt sie bei ihrer sehr religiösen Mutter im Haus und hilft in der Schafzucht ihres bipolaren Vaters aus. Aber selbst zurückgezogen in einsamer Isolierung und anmutender Natur ist der Prozess der Genesung kein einfacher Pfad.

    In Interviews betont Fingscheidt immer wieder, dass es sich bei „The Outrun” um einen europäischen Film handelt: Sie und ihr kreatives Kernteam sind deutscher Herkunft, die Produzenten sind Engländer, die Hauptdarstellerin hat irische Wurzeln und die Geschichte selbst spielt in Schottland und wurde von einer Schottin verfasst. Der Film basiert nämlich auf den autobiografischen Memoiren von Amy Liptrot, die das Buch während dem Entzugsprozess schrieb. Und um der realen Geschichte gerecht zu werden, drehte Fingscheidt an den originalen Schauplätzen. Nicht nur die beeindruckenden Landschaften von Schottland werden eingefangen, sondern eben auch in genau jenen Häusern, in denen Liptrot selbst gelebt hat. Auf den Spuren der Realität wirkt dadurch der Spielfilm wahnsinnig authentisch.

    Dieser Eindruck ist aber ebenfalls auf die Menschen vor der Kamera zurückzuführen. Saoirse Ronan gilt schon seit geraumer Zeit als eine der begabtesten neuen Darstellerinnen der Filmbranche. Ihre Performance in „The Outrun” beweist, wie vielschichtig sie ihre Rollen verkörpern kann. Mal eine emotionale Wucht, mal ganz reduziert, immer Präsenz beweisend, scheint es, als würde man eine Dokumentation sehen und keine gestellten Szenen. Und diese dokumentarische Anmutung findet sich auch in der Inszenierung des Films – kein Wunder, hat Fingscheidt bereits mehrere Dokumentationen gedreht. In ihrem dritten Spielfilm lässt sie Ronan immer wieder ruhig im Voice Over über spezifische Themen sprechen, als wäre sie David Attenborough, und untermalt dieses mit eigenen Aufnahmen und Archivmaterial. Damit ist man nicht nur voll eingetaucht in die Immersion des Spielfilms, sondern erfährt Fakten über physikalische Erkenntnisse, wie ab welchem Punkt Wellen brechen, oder welche mythologische Sagen man den auf den Orkney-Inseln weit verbreiteten Seehunden zuspricht. Passend zum Innenleben der Figur weiß die Inszenierung ebenfalls ihr Tempo an ihren Gemütszustand von hektisch und aufbrausend bis beruhigt und friedlich anzupassen. Dadurch kommen die großen Momente angesichts der vielen ruhigen Situationen nochmal besser zum Ausdruck. Vor allem eine Szene, wenn sich Körper und Natur im Einklang befinden, dann ist Gänsehaut-Erfahrung garantiert.

    „The Outrun” widmet sich intensiv dem therapeutischen Heilungsprozess, während das Aufarbeiten in mehreren, strukturierten Flashbacks erzählt wird. Und Fingscheidt weiß, dass dieses Thema keine einfachen Lösungen oder Herangehensweisen bietet. Und eben auch kein Sündenbock wird gefunden. Zwar wird Ronas Hintergrund und familiäres Erbe geschildert, aber nie mit einem erhobenen Zeigefinger. Voller Ambivalenzen fühlt man mit Ronan mit, egal ob sie schöne Momente erlebt oder der Versuchung des Tropfen Alkohols nicht widerstehen kann. Da gelingt dem Film ein total menschlicher und nahbarer Zugang. Er verbindet Religion, Einsamkeit, Spiritualität, Naturverbundenheit und Meditation in ein zusammenhängendes Geflecht – allesamt Werkzeuge und Zugänge für Rona zur psychischen Verarbeitung. Dadurch entfaltet der Film auch eine inspirative Ader und wird selbst zu einer Art Meditation.

    In all der Schwärmerei ist es eine Leichtigkeit, „The Outrun” als Meisterwerk zu bezeichnen. Harte Themen wie die Alkoholsucht widmet er sich seriös und gefühlsbetont, ohne ausschlachtend zu sein und Emotionen aufzuzwingen. Nora Fingscheidts Fingerspitzengefühl ist es zu verdanken, dass der Film so real wirkt, sodass man selbst den Kitsch am Ende verzeiht und sich darauf einlassen kann. Und Saoirse Ronan wird jetzt schon als Oscar-Kandidatin für das nächste Jahr gehandelt – zurecht.
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    25.02.2024
    11:10 Uhr