Filmkritik zu The Delinquents

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Dreieinhalb Jahre im Gefängnis oder 25 Jahre arbeiten?

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Als Delinquenten bezeichnet man in der Kriminologie Personen, die eine Straftat begangen haben. Ein anderes Wort für Verbrecher oder Straftäter also, das jedoch deutlich harmloser und verspielter daherkommt als seine verurteilenden Synonyme. Insofern passt der Titel „Los Delincuentes“ (im Deutschen etwas verkrampft als „Die Missetäter“ übersetzt) sehr gut zu Rodrigo Morenos erstem Spielfilm seit einem knappen Jahrzehnt. Mit seinen früheren Filmen schon das ein oder andere Mal auf der Berlinale (und mit seinem Dokumentarfilm „Una Ciudad de Provincia“ 2017 auch auf der Viennale) vertreten, scheint Moreno mit „Los Delincuentes“ nun in noch prestigeträchtigere Sphären vorzudringen: Argentinien reichte den Film als besten Internationalen Film für die Oscarverleihung im nächsten Jahr ein, auch wenn die Chancen auf eine Nominierung ob der Länge und der unkonventionellen Erzählweise verschwindend gering sein dürften.

    Morán ist einer der titelgebenden Delinquenten. Er arbeitet in einer Bank in Buenos Aires, sitzt Tag für Tag hinter seinem Schalter und zahlt den Schlange stehenden Kund*innen Geld aus, hin und wieder muss ein Safe geöffnet oder eine Unterschrift auf einem Check abgeglichen werden. Ein langweiliges Angestelltenleben eben, zumindest empfindet Morán es so. Und so nutzt er die Gelegenheit, die sich ihm eines Tages eröffnet, und stiehlt unbeaufsichtigt 650.000 Dollar aus der Bank. Sein Plan ist so simpel wie gut kalkuliert, alles genauestens ausgerechnet: Das Geld reicht gerade für das Gehalt, das Morán und ein Komplize in den 25 verbleibenden Jahren bis zur Pension verdient hätten. Morán weiht seinen Kollegen Román in den Plan ein, der so unfreiwillig zum zweiten Delinquenten wird. Morán werde sich selbst anzeigen, bei guter Führung nicht mehr als dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen und anschließend nie wieder arbeiten müssen, genau wie Román, dessen Aufgabe es ist, das Geld bis dahin zu verstecken. Niemand werde ihn verdächtigen, versichert Morán Román, aber mit der Zeit fällt es letzterem immer schwerer, mit der Last des Geldes zu leben, und der Plan gerät ins Wanken.

    Morenos Film basiert lose auf dem argentinischen Klassiker „Apenas un Delincuente“ („Hardly a Criminal“) von Hugo Fregonese, der im vergangenen Jahr auf der Viennale im Rahmen der Reihe zum argentinischen Film Noir zu sehen war und der im Titel eine ähnliche Sympathie für die Handlung des Straftäters andeutet. Während Fregoneses Film jedoch für seine genretypisch spannungsgeladenen und intensiven 80 Minuten gelobt wird, dehnt „Los Delincuentes“ nicht nur die Laufzeit auf 180 Minuten, sondern auch die Genrekonventionen ganz gehörig. Ein Bankraub etwa ist im Kino für gewöhnlich von dem aufgeregten Gefühl begleitet, dass in jeder Sekunde etwas schief gehen könnte. Eine Drucksituation, die als solche dynamisch, schnell und mit hoher Schnittfrequenz inszeniert wird. Bei Moreno geschieht der Bankraub so unaufgeregt und beiläufig, dass man ihn fast nicht mehr als solchen wahrnimmt. Die Subversion von Genrekonventionen ist nur eines der Elemente, die einen Vergleich mit der ebenfalls argentinischen Gruppierung „El Pampero Cine“ nahelegen. Der Zusammenschluss an Filmemacher*innen um Mariano Llinás, Laura Citarella und Alejo Moguillansky ist mit großer Regelmäßigkeit bei der Viennale zu Gast, etwa auch in diesem Jahr mit „Clorindo Testa“ und „Und Andantino“. „La Flor“ oder „Trenque Lauquen“ sind naheliegende Vergleichspunkte für Morenos Film, die sich ebenfalls Zeit lassen, um in mehreren Teilen (bei „Los Delincuentes“ sind es zwei etwa 90-minütige) rätselhaft und verschachtelt lose von Genres inspirierte Erzählungen aufzubauen. Das Rätselhafte kündigt sich hier schnell an: Neben den Figurennamen-Anagrammen (außer Morán und Román tauchen später noch Norma, Morna und Ramón auf) werden die Geschehnisse etwa durch eine Szene zu Beginn aus der Wirklichkeit enthoben, in der zwei Bankkund*innen die exakt selbe Unterschrift zu haben scheinen.

    Unvermeidlich tauchen auch Darsteller*innen aus den „El Pampero Cine“-Filmen bei Moreno auf, allen voran die im jüngeren argentinischen Kino ohnehin omnipräsente Laura Paredes in der Rolle als Laura (auch ihre Figur in „Trenque Lauquen“ trug schon diesen Namen), die von der Bank als Ermittlerin eingesetzt wird, um den Diebstahl aufzuklären. Mithilfe dieser Figur beobachtet Moreno – ähnlich wie auf der Viennale zum Beispiel auch Radu Jude und Ryusuke Hamaguchi in ihren neusten Filmen – eine bestimmte Form kapitalistischer Unternehmenskultur. Hier zeichnet sie sich dadurch aus, dass auf keinen Fall ein Wort des Bankraubs nach außen dringen darf, um ja nicht die Kredibilität des Unternehmens zu gefährden. Das erschwert natürlich die Untersuchungen, hält Laura jedoch nicht davon ab, intern und ohne Einbeziehung der offiziellen Behörden durch ihre ausgiebigen Verhöre die Angestellten unter Druck zu setzen, ihnen ohne Bedenken zu kündigen und Zwietracht unter ihnen zu sähen, wo immer möglich.

    Spätestens ab Beginn des zweiten Teils geraten Moráns Bankraub und die damit verbundenen Ermittlungen jedoch endgültig in den Hintergrund. Aus Angst, entdeckt zu werden, reist Román auf Anraten Moráns in die Provinz Córdoba, um das Geld dort auf einem Hügel zu vergraben. Was von dem Kriminalfilm bisher übriggeblieben war, entwickelt sich zu so etwas wie einer bukolischen Liebesgeschichte voller (visueller wie narrativer) Dopplungen, Unstimmigkeiten und Rätsel. Die Zeit bleibt, nachdem sie ohnehin schon stark verlangsamt erschien, nun scheinbar völlig stehen. Die Reise(n) in die im Kino sonst stark vernachlässigten ländlichen Gegenden Argentiniens gehen mit einer Entschleunigung einher, die sich mit den Erfahrungen Moráns decken, der die Zeit im Gefängnis beinahe als Detox-Retreat erlebt. Es wird über Briefe kommuniziert und über Kindheitserinnerungen geredet, von denen das Internet nichts weiß. So einnehmend die magisch-realistischen Entwicklungen auch sind, kommt „Los Delincuentes“ hier dem Naturkitsch zumindest sehr nahe. Es ist eine simplifizierte, vom Leben in der Großstadt geprägte Vorstellung des Landlebens, so scheint es. Da fährt die Frau, die Román am Bergfluss kennenlernt, natürlich nicht mit dem Motorrad, sondern reitet auf einem Pferd. Moreno entwirft in der zweiten Hälfte eine Utopie, die einen Gegenentwurf zum kapitalistisch-geprägten Großstadtleben darstellt und die unweigerlich verzaubert, macht es sich dabei aber etwas zu einfach. Sehens- und besprechenswert ist „Los Delincuentes“ dennoch allemal.
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    (Hans Bonhage)
    13.11.2023
    22:53 Uhr