Bilder: 20th Century Fox, The Walt Disney Company Fotos: 20th Century Fox, The Walt Disney Company
  • Bewertung

    Der schmale Grat zwischen Erwartung und Enttäuschung

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Erwartungshaltung… diese verdammte Erwartungshaltung. Als jemand, der sich im Vorfeld einige Kritik durchliest und anschaut, war ich mit dem frenetischen Kritikerlob für „All of Us Strangers“ durchaus vertraut. 100% auf Rotten Tomatoes, 4.0 auf Letterboxd - klingt nach einem sogenannten „No Brainer“, also ein Film, der, selbst wenn er mich thematisch nicht so ansprechen sollte, zumindest eine gewisse Grundqualität aufweist, wodurch er gar kein Flop sein kann. Dabei ist sogar die Prämisse eine, auf die ich mich sehr freute: Ein einsamer Drehbuchautor arbeitet an einem Skript über seine früh verstorbenen Eltern. Nachdem er eine unerwartete Begegnung mit einem möglichen romantischen Interesse macht, reist er in die Zeit zurück, um seinen Eltern alles zu erzählen, was sie von seinem Leben nicht mehr miterleben konnten.

    Doch leider hat mich Andrew Haighs Genremix über seine 105 Minuten Laufzeit (für heutige Filme angenehm kurz) nie so richtig emotional erreicht. Ich habe wirklich versucht, mich in die Geschichte und die Charaktere hineinzuversetzen, die Dialoge aufmerksam zu verfolgen und Haighs unorthodoxe Erzählstruktur zu durchschauen. Rausgekommen bin ich leider eher unterwältigt. „All of Us Strangers“ war trotz seines gemächlichen Tempos überraschend unzugänglich. Dafür drückt Haigh trotz der tragischen Ursprungsgeschichte des Protagonisten zu selten auf die Tränendrüse und wenn er es tut, sind diese Momente zu kurz geraten. Auch wenn es vermutlich beabsichtigt war, dass man sich als Zuseher im Hin- und Hergespringe zwischen einer geradlinigen Romanze, surrealen Fantasie-Elementen und Science-Fiction-Zeitspiel immer wieder verliert, glaube ich nicht, dass Haigh ein hochkomplexes Rätsel vorlegen wollte. Vor allem gegen Ende fällt der Film aber in die Falle der Bedeutungsschwangerkeit, die nicht nötig gewesen wäre. Dafür hätten die Idee und die fantastischen Darsteller*innen genug hergegeben.

    Andrew Scott ist schon immer ein unterschätzter Schauspieler gewesen. Nicht, weil er ausschließlich in kleineren Produktionen mitspielt, schließlich stießen Serien wie „Sherlock“ oder „Fleabag“ auch auf ein breites Publikum. Sein Name kommt in Diskussionen über aktuelle Schauspielgrößen aber so gut wie nie vor. Dabei hat Scott im Laufe seiner Karriere bewiesen, wie wandelbar er ist. Als der bösartige und exzentrische Professor Moriarty zog er den gesamten Hass des Sherlock-Publikums auf sich, als der zynische „Sexy-Priest“ lieferten er und Phoebe Waller-Bridge sich in der zweiten Staffel von „Fleabag“ einen gewitzten Schlagabtausch ab und in Sam Mendes „1917“ konnte er sich mit limitierter Screentime als echter Scene-Stealer etablieren. In „All of Us Strangers“ spielt Scott gedämpfter denn je. Sein Charakter Adam ist ein vom Leben gezeichneter Introvertierter, der in seinem kleinen, wenn auch durchaus pompösen Londoner Apartment am liebsten an seinen Drehbüchern schreibt und ansonsten zurückgezogen lebt. In seiner ersten Begegnung mit seinem Nachbarn Harry, gespielt von Paul Mescal, merkt man ihm auch an, wie überfordert er mit spontanen sozialen Konfrontationen ist. Erst als er merkt, dass Harry sich für ihn unter der Oberfläche interessiert und ebenfalls Dämonen in sich trägt, lässt er ihn an sich ran.

    Scott liefert in „All of Us Strangers“ eine echte Tour de Force ab. An ihm liegt es nicht, dass die emotionale Komponente nicht bei mir hängen blieb. Er und Mescal, der in seiner üblichen charismatischen Art auftrumpft, teilen elektrische Chemie. Nur schade, dass ich sie ihnen zu selten abgekauft habe. Dafür spielt die Beziehung mit Fortdauer eine zu untergeordnete Rolle, weil der andere Handlungsstrang sie in den Schatten stellt. Im letzten Drittel driftet das Geschehen ins Hanebüchene ab und man weiß nicht mehr so richtig, was real ist und was sich der Protagonist eventuell einbildet. Um das besser nachvollziehen zu können, hätte Haigh gut daran getan, dem Charakter Harry noch mehr Substanz zu geben.

    Der Film wird immer dann mitreißend, wenn Adam in Kontakt mit seinen Eltern tritt. Hier dringt die Faszination, wie es sein kann, mit nahestehenden Menschen, die schon lange nicht mehr hier sind, darüber zu sprechen, wie das eigene Leben weiterging. Adam wird nie wissen, wie seine Eltern über ihn und die Person, die er geworden ist, denken. Er spielt alle möglichen Szenarien durch, wie sie auf gewisse Erzählungen oder Geständnisse reagieren könnten. Besonders im Zusammenspiel mit seiner Mutter, der wie immer großartigen Claire Foy, sorgt das für wahre Gänsehautmomente, die trotz aller Ungewissheit unheimlich authentisch wirken. Jamie Bell ist als empathischer Vater ebenfalls brillant, weil er mit der Vaterfigur der damaligen Zeit keine stereotypische Darstellung, sondern das Potenzial zeigt, mit dem sich einige Väter dieser Generation mit ihren Söhnen besser verstehen könnten.

    Obwohl gegen den Cast, die technische Umsetzung und die Grundidee nicht viel einzuwenden ist, konnte „All of Us Strangers“ seinem Potenzial für mich nie ganz gerecht werden. Dafür verliert sich der Film im finalen Akt zu sehr und gewisse Dialoge und Szenen werden zu halbherzig und kompromisslos auserzählt. Was ich mir schon vorstellen kann, ist, dass die Buchvorlage Strangers von Taichi Yamada in dieser Hinsicht deutlich mehr offenbart.
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    (Severin Dringel)
    09.11.2023
    21:14 Uhr
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