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    Jeder lebt für sich allein

    Wie einsam und allein ist der Mensch denn tatsächlich, Zeit seines Lebens und im manchmal schnell, manchmal langsam dahinfließenden Strom der Jahrzehnte? Was davon ist nur Fassade, was Imagination, und wie sehr braucht es andere, um sich geborgen zu fühlen? Diese Fragen zu beantworten, scheinen oft unbequem. Weil sie Tatsachen als Licht befördern, die keiner erkennen will. Diesen Fragen stellen sich unter anderem auch Filmemacher und erörtern auf höchst unterschiedliche Weise, wie Alleinsein sich anfühlen kann. Der Mensch kommt allein auf die Welt, interagiert während seines Lebens mit anderen, verlässt sich, wenn es gut geht, auf Mutter und Vater, später auf den Lebensmenschen, wenn sich einer finden lässt, um dann, allein, wieder diese Welt zu verlassen. Begegnungen und die Zugehörigkeit zu anderen schafft den nötigen Antrieb, um immer weiterzumachen. Fehlt diese Komponente, bleibt zumindest die Hoffnung, es könnte einmal so werden. In Uberto Pasolinis Mr. May oder das Flüstern der Ewigkeit wird die Einsamkeit des Menschen inmitten von Menschen als tieftrauriges, fast schon defätistisches Requiem inszeniert, das einem die Kehle zuschnürt. David Lowery schürt mit seiner metaphysischen Meditation A Ghost Story den Schmerz des Erinnerns und das Verlieren in den Erinnerungen eines vergangenen Lebens, sowohl der Lebenden als auch der Toten. Der Mensch wird in diesen Filmen dazu aufgefordert, sein Dasein – und auch den Tod – ertragen zu müssen, in dem Bewusstsein, mit seiner Tatsache der Existenz stets allein zu bleiben, weil man die eigene Existenz nicht teilen kann. Weil sie das ist, was man hat.

    Diesen Existenzialismus im Film lässt Andrew Haigh einen Großstadttraum träumen, in der sich die Grenzen zwischen Realität und Imagination von Anbeginn an auflösen. Im Zentrum des Psychogramms steht, umgeben von sozialem Vakuum, ein Mann namens Adam, wohnhaft in einem über der Skyline von London schwebenden Appartmenthaus, das so gut wie leer steht. Adam ist somit ein einsamer Kosmonaut, der auf das Millionentreiben einer Großstadt hinunterblickt, ohne dazuzugehören. Er ist allein und einsam, antriebslos, gedankenverloren, zehrt an der Energie des Sonnenaufgangs, der, so kommt es vor, für ihn allein seine Show abzieht. Abgegrenzt und abgekoppelt von einem Leben im Miteinander ist auch Nachbar Harry (Paul Mescal), der eines Abends an seiner Tür läutet. Anfangs will Adam lieber keinen Kontakt, doch kurze Zeit später, nachdem klar ist, dass beide queer sind und füreinander Zuneigung empfinden, entsteht eine zaghafte Beziehung, die stets unterbrochen wird von einer wundersamen Tatsache, die Zeit und Raum neu konjugiert. Denn Adam, der in seinem zwölften Lebensjahr beide Elternteile bei einem Autounfall verloren hat, bekommt die Gelegenheit, Mutter und Vater wiederzusehen. Er muss dazu nur das Haus seiner Kindheit aufsuchen, und alles ist plötzlich wieder so wie früher, als wäre Adam wieder zwölf. Doch das ist er nicht, und das wissen auch seine Eltern, denen bewusst ist, längst gestorben zu sein.

    Was würde man nicht dafür geben, geliebten, von uns gegangenen Menschen nochmal sagen zu können, was man immer schon sagen, nochmal fragen zu können, was man immer schon fragen wollte. Und einfach nicht mehr die Gelegenheit dazu hatte. Diese Möglichkeit wird Adam offenbart, und er nutzt sie. Er verabschiedet sich neu, kann seine Eltern nochmal umarmen, die Dinge ins Reine bringen und ihnen erzählen, wie es ihm seit damals ergangen war. Andrew Scott gibt dem einsamen Menschen, der den Verlustschmerz nicht überwinden kann und Angst davor hat, neuen zu erleiden, mit einer verletzlichen Intensität, dass man den Eindruck hat, man würde ihn schon lange kennen. Es wird fühlbar, was er empfindet, denn es sind Emotionen, die uns allen vertraut sind. All of Us Strangers wird zur immersiven Seelenreise an eine in farbiges Licht getauchte Urangst, geschützt vom Mantel der Verdrängung. Haigh reißt diesen herunter. Ecce homo, vermeint man ihn sagen zu hören. Und da ist er, dieser Adam, ein einsames menschliches Wesen, hin und hergerissen zwischen Sehnsucht, Abschied und von einer Reiselust ins Innere seines Selbst übermannt.

    Vielleicht, so könnten manche vielleicht kritisieren, gibt sich All of Us Strangers einer überzeichneten Traurigkeit hin. Ich finde: Emotionen wie diese sind zu wahrhaftig, um als Kitsch bezeichnet zu werden. Leicht waren die Dreharbeiten womöglich nicht, Scott scheint sich dabei selbst an so manch schmerzliche Erfahrungen in seinem Lebens erinnert zu haben. Haighs Film ist an Intimität und Nähe kaum zu überbieten, ist surreal, voller Traumsequenzen und Erinnerungen, getaucht in Farbspektren und unterlegt mit hypnotisierendem Score, der Platz lässt für Klassiker wie The Power of Love von Frankie goes to Hollywood und diesen endlich von der Weihnachts-Playlist streicht. All of Us Strangers ist eine Naherfahrung und ein Psychotrip, vielleicht gar eine Geistergeschichte, aber ganz sicher keine leichte Kost und ein schweres, ich will nicht sagen sentimentales, aber wehmütiges Gefühl hinterlassend; einen Kloß im Hals, einen Druck auf der Brust. Befreiend ist Haighs Film nicht, dafür aber in seinem epischen Erspüren am Dasein, das aus Verlust und Suche besteht, berauschend und wunderschön. Hoffnung hat der Film keine, doch jede Menge Erkenntnis. Vor allem diese, dass Sehnsucht auch Geborgenheit bedeuten kann.



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    17.02.2024
    21:42 Uhr
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    Nachricht von Sam

    Ist es ein Drehbuch? Kann der Autor mit dem Zug in die Vergangenheit reisen? Was bedeuten die Begegnungen mit den jung verstorbenen Eltern? Können sie den jungen Mann an der Seite ihres inzwischen gealterten Sohnes sehen und als Lebenspartner akzeptieren?
    Viele Fragen. Wenige Antworten. Und das ist auch gut so. Der Film lebt von der undurchsichtigen Atmosphäre und von den grandiosen Darstellern, nostalgischen Bildern und einem Soundtrack, dass die 80er feiert.
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    13.02.2024
    21:34 Uhr
  • Bewertung

    Der schmale Grat zwischen Erwartung und Enttäuschung

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Erwartungshaltung… diese verdammte Erwartungshaltung. Als jemand, der sich im Vorfeld einige Kritik durchliest und anschaut, war ich mit dem frenetischen Kritikerlob für „All of Us Strangers“ durchaus vertraut. 100% auf Rotten Tomatoes, 4.0 auf Letterboxd - klingt nach einem sogenannten „No Brainer“, also ein Film, der, selbst wenn er mich thematisch nicht so ansprechen sollte, zumindest eine gewisse Grundqualität aufweist, wodurch er gar kein Flop sein kann. Dabei ist sogar die Prämisse eine, auf die ich mich sehr freute: Ein einsamer Drehbuchautor arbeitet an einem Skript über seine früh verstorbenen Eltern. Nachdem er eine unerwartete Begegnung mit einem möglichen romantischen Interesse macht, reist er in die Zeit zurück, um seinen Eltern alles zu erzählen, was sie von seinem Leben nicht mehr miterleben konnten.

    Doch leider hat mich Andrew Haighs Genremix über seine 105 Minuten Laufzeit (für heutige Filme angenehm kurz) nie so richtig emotional erreicht. Ich habe wirklich versucht, mich in die Geschichte und die Charaktere hineinzuversetzen, die Dialoge aufmerksam zu verfolgen und Haighs unorthodoxe Erzählstruktur zu durchschauen. Rausgekommen bin ich leider eher unterwältigt. „All of Us Strangers“ war trotz seines gemächlichen Tempos überraschend unzugänglich. Dafür drückt Haigh trotz der tragischen Ursprungsgeschichte des Protagonisten zu selten auf die Tränendrüse und wenn er es tut, sind diese Momente zu kurz geraten. Auch wenn es vermutlich beabsichtigt war, dass man sich als Zuseher im Hin- und Hergespringe zwischen einer geradlinigen Romanze, surrealen Fantasie-Elementen und Science-Fiction-Zeitspiel immer wieder verliert, glaube ich nicht, dass Haigh ein hochkomplexes Rätsel vorlegen wollte. Vor allem gegen Ende fällt der Film aber in die Falle der Bedeutungsschwangerkeit, die nicht nötig gewesen wäre. Dafür hätten die Idee und die fantastischen Darsteller*innen genug hergegeben.

    Andrew Scott ist schon immer ein unterschätzter Schauspieler gewesen. Nicht, weil er ausschließlich in kleineren Produktionen mitspielt, schließlich stießen Serien wie „Sherlock“ oder „Fleabag“ auch auf ein breites Publikum. Sein Name kommt in Diskussionen über aktuelle Schauspielgrößen aber so gut wie nie vor. Dabei hat Scott im Laufe seiner Karriere bewiesen, wie wandelbar er ist. Als der bösartige und exzentrische Professor Moriarty zog er den gesamten Hass des Sherlock-Publikums auf sich, als der zynische „Sexy-Priest“ lieferten er und Phoebe Waller-Bridge sich in der zweiten Staffel von „Fleabag“ einen gewitzten Schlagabtausch ab und in Sam Mendes „1917“ konnte er sich mit limitierter Screentime als echter Scene-Stealer etablieren. In „All of Us Strangers“ spielt Scott gedämpfter denn je. Sein Charakter Adam ist ein vom Leben gezeichneter Introvertierter, der in seinem kleinen, wenn auch durchaus pompösen Londoner Apartment am liebsten an seinen Drehbüchern schreibt und ansonsten zurückgezogen lebt. In seiner ersten Begegnung mit seinem Nachbarn Harry, gespielt von Paul Mescal, merkt man ihm auch an, wie überfordert er mit spontanen sozialen Konfrontationen ist. Erst als er merkt, dass Harry sich für ihn unter der Oberfläche interessiert und ebenfalls Dämonen in sich trägt, lässt er ihn an sich ran.

    Scott liefert in „All of Us Strangers“ eine echte Tour de Force ab. An ihm liegt es nicht, dass die emotionale Komponente nicht bei mir hängen blieb. Er und Mescal, der in seiner üblichen charismatischen Art auftrumpft, teilen elektrische Chemie. Nur schade, dass ich sie ihnen zu selten abgekauft habe. Dafür spielt die Beziehung mit Fortdauer eine zu untergeordnete Rolle, weil der andere Handlungsstrang sie in den Schatten stellt. Im letzten Drittel driftet das Geschehen ins Hanebüchene ab und man weiß nicht mehr so richtig, was real ist und was sich der Protagonist eventuell einbildet. Um das besser nachvollziehen zu können, hätte Haigh gut daran getan, dem Charakter Harry noch mehr Substanz zu geben.

    Der Film wird immer dann mitreißend, wenn Adam in Kontakt mit seinen Eltern tritt. Hier dringt die Faszination, wie es sein kann, mit nahestehenden Menschen, die schon lange nicht mehr hier sind, darüber zu sprechen, wie das eigene Leben weiterging. Adam wird nie wissen, wie seine Eltern über ihn und die Person, die er geworden ist, denken. Er spielt alle möglichen Szenarien durch, wie sie auf gewisse Erzählungen oder Geständnisse reagieren könnten. Besonders im Zusammenspiel mit seiner Mutter, der wie immer großartigen Claire Foy, sorgt das für wahre Gänsehautmomente, die trotz aller Ungewissheit unheimlich authentisch wirken. Jamie Bell ist als empathischer Vater ebenfalls brillant, weil er mit der Vaterfigur der damaligen Zeit keine stereotypische Darstellung, sondern das Potenzial zeigt, mit dem sich einige Väter dieser Generation mit ihren Söhnen besser verstehen könnten.

    Obwohl gegen den Cast, die technische Umsetzung und die Grundidee nicht viel einzuwenden ist, konnte „All of Us Strangers“ seinem Potenzial für mich nie ganz gerecht werden. Dafür verliert sich der Film im finalen Akt zu sehr und gewisse Dialoge und Szenen werden zu halbherzig und kompromisslos auserzählt. Was ich mir schon vorstellen kann, ist, dass die Buchvorlage Strangers von Taichi Yamada in dieser Hinsicht deutlich mehr offenbart.
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    09.11.2023
    21:14 Uhr