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    Wes Anderson auf neuen Fährten

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    „Asteroid City“ lief erst vor wenigen Wochen in den Kinos und schon hat der Regisseur der Pastelltöne und symmetrischen Einstellungen bereits das nächste Werk im Petto, welches auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte. Wes Anderson verfilmt mit „The Wonderful Story of Henry Sugar“ (dt. Titel: „Ich sehe was, was du nicht siehst“) den ersten Teil einer mehrteiligen Kurzfilm-Reihe, die auf den Romanen von Roald Dahl basieren. Es ist ein überraschender Kontrast zu seinen Langfilmen und einer seiner besten Produktionen in Jahren.

    Henry Sugar (Benedict Cumberbatch) stößt in einer Bibliothek unfreiwillig auf ein unscheinbares Buch. In ihm wird die Geschichte von Imdad Khan (Ben Kingsley) festgehalten, der im Laufe seines Lebens übernatürliche Fähigkeiten entwickelte. Die Kunst, durch Objekte hindurchzusehen, fasziniert Sugar so sehr, dass er fortan ebenfalls Jahre damit verbringt, diese Fähigkeit zu erlernen. So gehen die Jahre ins Land, bis er diese Superkraft perfektioniert hat. Die nächste Zeit verbringt er damit, Casinos das Geld aus den Taschen zu ziehen, immerhin stellt das Hindurchsehen durch einfache Spielkarten für ihn absolut kein Problem mehr dar. Doch dann muss er sich erst einmal der Frage stellen: Was tun mit all dem Geld?

    Zurecht wird Wes Anderson von einer großen Bubble geliebt, immerhin ist er ein Regisseur, dessen Handschrift direkt ins Auge fällt. Pastellfarben, Symmetrie, ein feiner eigener Humor – das ist wohl Wes Anderson in Reinform, auch wenn er dies in seinem Frühwerk noch nicht ganz so sehr auf die Spitze getrieben hat. Nun steht in den nächsten Monate eine Kurzfilmsammlung von ihm an, wobei „The Wonderful Story of Henry Sugar“ den Anfang bildet. Anpassungsfähigkeit ist also vorprogrammiert, immerhin waren so gut wie alle seiner Filme bisher Langfilme. In seiner ersten Roald-Dahl-Verfilmung knüpft er erneut an sein Erfolgsrezept an und verleiht dem Ganzen einen völlig neuen Anstrich. Dafür kommen gerade einmal fünf große Stars vor. Nein, da fehlt keine Null, wie man jetzt annehmen könnte. Das ist jedoch vom großen Vorteil, da die wenigen Figuren umso feinfühliger ausfallen. Eher ist hier alles verdichtet, nicht nur die Narrative, die fast den Eindruck erweckt, als würde man den Film in doppelter Geschwindigkeit anschauen, sondern auch das Setdesign. Die Erkenntnis, die Anderson dem Publikum konstant vor Augen hält, ist eindeutig: Jede Minute von den kurz gehaltenen 39 Minuten ist kostbar.

    Bühnensets, die in Windeseile gewechselt werden und an Theatervorstellungen erinnern, bringen dabei einen sehr eigenen Charme mit, der fast schon im Kontrast zu seinen vorherigen Werken steht. Während Anderson seiner Exzentrik bei „The Grand Budapest Hotel“ und speziell „The French Dispatch“ noch freien Lauf gelassen hat und neben dem Film auch immer sich selbst als Künstler ins Rampenlicht rückte (es reichte aus Werbesicht schon aus, wenn man „den neuen Wes Anderson“ anpreisen konnte), sieht dies nun anders aus. Bei den Kurzfilmen ist schlichtweg kein Platz für eben jene Exzentrik oder Selbstvermarktbarkeit. Das Resultat: „The Wonderful Story of Henry Sugar“ mag wohl unter Wes-Anderson-Maßstäben der minimalistischste Film sein. Dennoch weist er seinen ganz eigenen Charme auf.
    Das mag vordergründig auch an der Romanvorlage liegen. Es handelt sich immerhin um Roald Dahl, der als einer der großartigsten Geschichtenerzähler für Kinder im 20. Jahrhundert bezeichnet wird. Die Geschichte in Henry Sugar ist dabei ein wunderbarer Einstieg in die Welt des namhaften Schriftstellers, da die Themenlandschaft eine perfekte Mischung aus Ernsthaftigkeit und Witz findet. Nie zu ernst und auch nie zu albern, werden Themen wie Moral, Verantwortungsbewusstsein und Gutmütigkeit ausgepackt und eine Geschichte erzählt, aus der sich durchaus einiges mitnehmen lässt. Das trifft sowohl für Kinder als auch für Erwachsene zu. Die Magie im Leben, die als weitere Komponente nicht zu kurz kommt, sorgt letztlich dafür, dass man den Kinosaal mit einem echt guten Gefühl verlassen kann. So lässt sich sagen, dass das erste Werk aus der Kurzfilmsammlung eine wirklich schöne Balance aus Feelgood und Nachdenklichkeit verkörpert.

    Insgesamt vier Dahl-Verfilmungen von Wes Anderson sind zumindest in nächster Zeit geplant. Ab 27.09. gibt es Henry Sugar („Ich sehe was, was du nicht siehst“), „Der Schwan“, „Der Rattenfänger“ und „Gift“ im Netflix-Abo, wobei schon jetzt die Vorfreude auf die drei weiteren groß ist. Auch wenn Anderson sich mit den limitierten filmischen Möglichkeiten selbst ein wenig beschneidet, beweist er viel Fingerspitzengefühl, um die Geschichte in eine tolle Form zu bringen. Kreativität und Einfallsreichtum sind in Henry Sugar durchgehend erkennbar, weshalb ich einer Zweitsichtung schon sehr entgegenschaue.
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    (Michael Gasch)
    12.09.2023
    18:30 Uhr