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    Wir blättern im Bilderbuch

    Was diese Werke in der Produktion wohl kosten müssen? Wir alle kennen diese vorzugsweise aus früheren Zeiten stammenden Kinderbücher, die aus kaschierten, dicken Kartonseiten bestanden und nur relativ wenig zum Blättern hatten, die aber, jedes Mal, wenn man das Buch aufschlug, dieses eine dreidimensionale Welt aus ausgestanzten und hintereinander gereihten Kartonkulissen auferstehen ließ. Blickte man dann frontal und in Augenhöhe mit dem Umschlag auf das Kunstwerk aus Falt-, Falz und Kartonkunst, war das Wunderland nicht erst seit der Darbo-Werbung näher als einem lieb ist. Als Sahnehäubchen dienten da noch Kartonstreifen am linken und rechten Rand, die, wenn man sie zog oder schob, filigrane Figuren durch den Forst, durchs Schloss oder durchs Dorf wandeln ließen. Ach, wie herrlich war und ist doch der analoge Büchertrick – und tatsächlich erfährt diese Art der Buchkunst heutzutage wieder ein Revival. Da braucht es nur einen Besuch im einschlägigen Papierfachhandel – der nächste Pop-up-Overkill kann schon der eigene sein.

    Mit solchen Werken muss auch Wes Anderson aufgewachsen sein. Und mit den Geschichten von Roald Dahl. Das Wunder des Puppentrickfilms passt da ebenfalls gut dazu, nicht grundlos entstand 2009 Andersons Werk Der fantastische Mr. Fox, natürlich Roald Dahl. Die Begeisterung für den britischen Schreiberling schlägt sich nun in einer Kurzfilmreihe nieder, die im Kino womöglich als Episodenfilm in einem Aufwaschen präsentiert worden wäre: Ich sehe was, was du nicht siehst – und weitere drei Erzählungen des Meisters, aus dessen Feder Charlie und die Schokoladenfabrik, Hexen hexen oder Sophiechen und der Riese stammen. Seine Kurzgeschichten sind da weniger kindertauglich – oder eben auch kindertauglich, nur nicht erste Wahl für eine Gutenachtgeschichte.

    In Ich sehe was, was du nicht siehst liest der eitle und geldgierige Henry Sugar, dargestellt von Benedict Cumberbatch, in einem Büchlein über einen wundersamen älteren Herrn namens Imdad Khan (Ben Kingsley), der, ohne seine Augen zu benutzen, sehen kann. Als Attraktion einer Freakshow will dieser seine Performance unter ärztlicher Aufsicht zelebrieren. Und was Imdad Khan konnte, muss Henry Sugar doch auch können. Nun, man kann sich denken, dass dieser in seinem Ehrgeiz, Spielcasinos abzuzocken, diese Skills bald sein Eigen nennen wird. Doch zu welchem Preis? Kein Roald Dahl ohne Pointe. So erfahren wir auch in den weiteren, deutlich kürzeren Schrullen von knapp über jeweils einer Viertelstunde, wie es einem Jungen ergeht, der von vogelmordenden Rabauken malträtiert wird (Der Schwan), wie es in Der Rattenfänger einem Schädlingsbekämpfer gelingt, lästigen Nagern Herr zu werden. Und wir erfahren in Gift, ob Cumberbatch, starr im Bett liegend, letztlich von einer Schlange gebissen wird oder nicht.

    Wes Anderson musste für seine geschmackvollen Miniaturen wohl nicht händeringend an die Türen seiner Stars klopfen – womöglich war‘s eher umgekehrt. Also gibt nicht nur Cumberbatch spielfreudig manch Dahl’sche Figure zum Besten, sondern auch Dev Patel (Slumdog Millionaire), Rupert Friend und Ben Kingsley. Als der Schriftsteller himself wetzt Ralph Fiennes im schmuck eingerichteten Autorenstübchen, vollgestopft mit Accessoires, seine Hauspantoffeln und gibt einleitende wie abschließende Worte zum Besten – ein Storyteller par excellence. Da fläzt man sich gern zu dessen Füßen, folgt vielleicht der ersten Geschichte mit genug Aufmerksamkeit, um all die Details aufzunehmen und auszuwerten, doch aufgrund der recht gleichförmig betonten, dichten Wortwolken, die da am künstlichen Firmament aufziehen, in einer Geschwindigkeit, wie man eben Kulissen auf die Bühne schiebt und von dort wieder weg, heften sich Augen und Ohren nicht mehr an die wesentliche Handlung, sondern driften auf nebensächliche, penibel platzierte Details ab. Es bleibt ein einziges Wundern über die obsessive Vorliebe des einstigen Werbefilmers für Setzkastenoptik und pittoresken Puppenstubenpanoramen, über die narrenhafte Vorliebe für 50ties-Gebrauchsgegenstände und einem analogen Damals. Vor diesen Bühnen dann bekannte Gesichter, die das Offensichtliche aussprechen und in direkter Rede sich selbst sprechen hören.

    Anderson treibt seinen akribischen Bühnenkitsch endgültig auf die Spitze. Seine Filme werden immer unbeweglicher, statischer und standbildhafter. Natürlich hinterfragt er die Möglichkeiten des Kinos, in dem er diese einfach nicht nutzt, um das Medium der Bedeutung eines mobilen Ersatztheaters zuzuführen. Doch diese Philosophie dahinter haben wir längst verstanden. Es braucht bei Anderson einen frischen Wind, der durch die abgestandene und ausgebleichte Optik weht. Es braucht neue Impulse. Und weniger Schauspieler, die wie Figuren einer Spieluhr ihren exakt getimten Auftritt haben. Das ist, außer repetitiv zu sein, zu viel vom Gleichen, auch wenn Roald Dahls Geschichten als Perpetuum Mobile das Ringelreihe antreiben. Es wäre auch schon egal, ob Dahl oder sonst wer hier als Vorlage gedient hat. Hauptsache, die Bühne bringt‘s.



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    15.10.2023
    18:16 Uhr
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    Wes Anderson auf neuen Fährten

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    „Asteroid City“ lief erst vor wenigen Wochen in den Kinos und schon hat der Regisseur der Pastelltöne und symmetrischen Einstellungen bereits das nächste Werk im Petto, welches auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte. Wes Anderson verfilmt mit „The Wonderful Story of Henry Sugar“ (dt. Titel: „Ich sehe was, was du nicht siehst“) den ersten Teil einer mehrteiligen Kurzfilm-Reihe, die auf den Romanen von Roald Dahl basieren. Es ist ein überraschender Kontrast zu seinen Langfilmen und einer seiner besten Produktionen in Jahren.

    Henry Sugar (Benedict Cumberbatch) stößt in einer Bibliothek unfreiwillig auf ein unscheinbares Buch. In ihm wird die Geschichte von Imdad Khan (Ben Kingsley) festgehalten, der im Laufe seines Lebens übernatürliche Fähigkeiten entwickelte. Die Kunst, durch Objekte hindurchzusehen, fasziniert Sugar so sehr, dass er fortan ebenfalls Jahre damit verbringt, diese Fähigkeit zu erlernen. So gehen die Jahre ins Land, bis er diese Superkraft perfektioniert hat. Die nächste Zeit verbringt er damit, Casinos das Geld aus den Taschen zu ziehen, immerhin stellt das Hindurchsehen durch einfache Spielkarten für ihn absolut kein Problem mehr dar. Doch dann muss er sich erst einmal der Frage stellen: Was tun mit all dem Geld?

    Zurecht wird Wes Anderson von einer großen Bubble geliebt, immerhin ist er ein Regisseur, dessen Handschrift direkt ins Auge fällt. Pastellfarben, Symmetrie, ein feiner eigener Humor – das ist wohl Wes Anderson in Reinform, auch wenn er dies in seinem Frühwerk noch nicht ganz so sehr auf die Spitze getrieben hat. Nun steht in den nächsten Monate eine Kurzfilmsammlung von ihm an, wobei „The Wonderful Story of Henry Sugar“ den Anfang bildet. Anpassungsfähigkeit ist also vorprogrammiert, immerhin waren so gut wie alle seiner Filme bisher Langfilme. In seiner ersten Roald-Dahl-Verfilmung knüpft er erneut an sein Erfolgsrezept an und verleiht dem Ganzen einen völlig neuen Anstrich. Dafür kommen gerade einmal fünf große Stars vor. Nein, da fehlt keine Null, wie man jetzt annehmen könnte. Das ist jedoch vom großen Vorteil, da die wenigen Figuren umso feinfühliger ausfallen. Eher ist hier alles verdichtet, nicht nur die Narrative, die fast den Eindruck erweckt, als würde man den Film in doppelter Geschwindigkeit anschauen, sondern auch das Setdesign. Die Erkenntnis, die Anderson dem Publikum konstant vor Augen hält, ist eindeutig: Jede Minute von den kurz gehaltenen 39 Minuten ist kostbar.

    Bühnensets, die in Windeseile gewechselt werden und an Theatervorstellungen erinnern, bringen dabei einen sehr eigenen Charme mit, der fast schon im Kontrast zu seinen vorherigen Werken steht. Während Anderson seiner Exzentrik bei „The Grand Budapest Hotel“ und speziell „The French Dispatch“ noch freien Lauf gelassen hat und neben dem Film auch immer sich selbst als Künstler ins Rampenlicht rückte (es reichte aus Werbesicht schon aus, wenn man „den neuen Wes Anderson“ anpreisen konnte), sieht dies nun anders aus. Bei den Kurzfilmen ist schlichtweg kein Platz für eben jene Exzentrik oder Selbstvermarktbarkeit. Das Resultat: „The Wonderful Story of Henry Sugar“ mag wohl unter Wes-Anderson-Maßstäben der minimalistischste Film sein. Dennoch weist er seinen ganz eigenen Charme auf.
    Das mag vordergründig auch an der Romanvorlage liegen. Es handelt sich immerhin um Roald Dahl, der als einer der großartigsten Geschichtenerzähler für Kinder im 20. Jahrhundert bezeichnet wird. Die Geschichte in Henry Sugar ist dabei ein wunderbarer Einstieg in die Welt des namhaften Schriftstellers, da die Themenlandschaft eine perfekte Mischung aus Ernsthaftigkeit und Witz findet. Nie zu ernst und auch nie zu albern, werden Themen wie Moral, Verantwortungsbewusstsein und Gutmütigkeit ausgepackt und eine Geschichte erzählt, aus der sich durchaus einiges mitnehmen lässt. Das trifft sowohl für Kinder als auch für Erwachsene zu. Die Magie im Leben, die als weitere Komponente nicht zu kurz kommt, sorgt letztlich dafür, dass man den Kinosaal mit einem echt guten Gefühl verlassen kann. So lässt sich sagen, dass das erste Werk aus der Kurzfilmsammlung eine wirklich schöne Balance aus Feelgood und Nachdenklichkeit verkörpert.

    Insgesamt vier Dahl-Verfilmungen von Wes Anderson sind zumindest in nächster Zeit geplant. Ab 27.09. gibt es Henry Sugar („Ich sehe was, was du nicht siehst“), „Der Schwan“, „Der Rattenfänger“ und „Gift“ im Netflix-Abo, wobei schon jetzt die Vorfreude auf die drei weiteren groß ist. Auch wenn Anderson sich mit den limitierten filmischen Möglichkeiten selbst ein wenig beschneidet, beweist er viel Fingerspitzengefühl, um die Geschichte in eine tolle Form zu bringen. Kreativität und Einfallsreichtum sind in Henry Sugar durchgehend erkennbar, weshalb ich einer Zweitsichtung schon sehr entgegenschaue.
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    12.09.2023
    18:30 Uhr