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  • Bewertung

    Kino, das unter die Haut geht

    Exklusiv für Uncut
    Mai 2023, Filmfestspiele Cannes. Nachdem die Credits des Coming-of-Age-Films „How to Have Sex“ einsetzen, folgt unmittelbar darauf Massenbeifall, der minutenlang anhält. Sofort ist eine einmalige Feierstimmung im Saal, dem Ständchen des Casts obendrauf sei Dank. Ich befinde mich unter dem Getümmel und klatsche wohl am lautesten mit. Es ist zwar das Ende des Films und doch gleichzeitig Anfang von etwas ganz Großem. Wenige Tage später erhält die Jungregisseurin Molly Manning Walker für ihr Werk den Sonderpreis „Un Certain Regard“ und geht damit in die Geschichte des prestigeträchtigen Film-Festivals ein – völlig zurecht. Nun steht die Kinoauswertung in den kommenden Wochen an und es könnte nicht schöner sein. Nicht nur freue ich mich auf das persönliche Wiedersehen, sondern mindestens genauso sehr für das Publikum, welches den Film noch vor sich hat. Für mich ist es nämlich schon ganz klar: „How to Have Sex“ ist der bis dato beste Film aus 2023 und es ist nicht einmal knapp.

    Tara (Mia McKenna-Bruce), Skye (Lara Peake) und Em (Enva Lewis) sind beste Freundinnen und befinden sich im griechischen Urlaub, um die schulischen Abschlussarbeiten und das Pläneschmieden für die Zukunft einen Augenblick vergessen zu können. Party ist angesagt, um die schönste Zeit ihres Lebens genießen zu können. Während ihre Freundinnen schon erste sexuelle Erfahrung gesammelt haben, ist Tara immer noch Jungfrau. Zu kompliziert fällt das Thema für sie aus, weshalb sie immer wieder kleine Sticheleien über sich ergehen lassen muss. Tag für Tag schleppt sie die Frage mit sich herum, welcher junge Mann aus der Nachbarunterkunft überhaupt infrage kommt. Als es eines Abends so weit ist, sind die Tage darauf von Ambivalenz geprägt.

    Größeres Kino als Scorsese und Co.

    Die Blockbusterfilme des Jahres sind mit „Barbie“, „Oppenheimer“, „Indiana Jones 5“ und zuletzt „Killers of the Flower Moon“ allmählich vorbei. Zu Recht wird sich jetzt so manch einer fragen, ob da überhaupt noch etwas Größeres kommen wird. Es ist dabei ähnlich wie im Vorjahr: Unter den Big-Budget-Filmen findet sich mal wieder eine Produktion, die nicht minimalistischer ausfallen könnte und doch maximale Wirkung erzielt. Die ebenfalls in Cannes gefeierte Perle „Aftersun“ aus dem Vorjahr bekommt mit „How to Have Sex“ Gesellschaft, besonders weil es so viele Gemeinsamkeiten gibt. Beide erzählen eine Coming-of-Age-Geschichte, sind Portraits über menschliche Komplexität und gehen, anders als die schnörkellosen, zu perfektionistischen Hochglanzfilme, nicht so schnell aus dem Herz. Und genau das ist „How to have sex“: Ein Herzensfilm, der nicht nur cineastisch perfekt umgesetzt ist, sondern auch eine enorme kulturelle Wichtigkeit mitbringt – der Titel lässt es bereits erahnen.

    Molly Manning Walker stellt sich dabei Fragen am Puls der Zeit, die jede Menge soziale, kulturelle und psychologische Ansätze bieten. Dabei ist es fast schon paradox, dass die jungen Frauen in der Lage sind, ihr Handy weglegen zu können und so gar nicht in das standardmäßige Bild von übertriebener Social-Media-Nutzung im Jahr 2023 passen. Dafür gibt es aber eigentlich auch gar keine Zeit, da Partys und die damit verbundenen Ausnüchterungsstunden schon jede Minute für sich beanspruchen. Back to the roots – könnte man wohl sagen, zeichnet „How to Have Sex“, zumindest in Hinblick auf den Drang nach zu viel Aufmerksamkeit eine Welt, in der man eigentlich gern leben würde. Das lässt sich in jeder anderen Hinsicht jedoch nicht sagen, da die Probleme der Gegenwart mal ganz direkt, mal nur am Rande, Einzug in den Film finden. Eine menschenleere Straße voller Müll, es handelt sich wohl um eine Metapher, dass menschliche Bedürfnisse inklusive des Tourismus immer einen Preis erfordern, lässt sich beispielsweise schnell übersehen. Ebenso die Versinnbildlichung des Spannungsfelds zwischen Destruktivität und Nachhaltigkeit in anderer Hinsicht. Kehrt Tara nach einer ekstatischen Nacht nicht länger als Mädchen, sondern als Frau zu ihrer Unterkunft zurück, ist das Bild der Straße jedoch ein völlig anderes. Erst sobald der Mensch die Bühne betritt, wird das Bild der einsamen Straße vervollständigt und zusätzlich erweitert. Plötzlich tut einem die vermüllte Straße nicht mehr ganz so Leid, stattdessen steht das Individuum im Fokus, in dem anscheinend Schmerz schlummert und fortan feinfühlig von Manning Walker dekonstruiert wird.

    Nur so viel sei gesagt: Die vorangegangene Nacht hat Taras Leben verändert und wird es auch auf lange Dauer noch tun. Doch was ist passiert? Wir erfahren es nicht, da erst am Ende die Puzzleteile zusammengefügt werden. Manning Walker erzählt jedoch keine stumpfe Geschichte von A nach B, sondern widmet sich Fragen, die im Kino in der Art und Weise vermutlich noch nie aufgegriffen wurden. Was passiert Minuten bis Sekunden vor dem ersten Mal und was danach? Sie hat genug Antworten für das Publikum parat, die ästhetisch in poetische Bilder eingehüllt werden. Wir sind also wieder bei der berühmten Filmregel „Show it, don’t tell it!“, was sich besonders aufgrund der vielen unausgesprochenen Worte als absolut richtige Entscheidung erweist. Die übertrieben gesagt trügerische Bildsprache, die hin und da hinzukommt, bietet zudem ein sehr frisches Konzept, welches sich schnell zusammenfassen lässt: Finde den Fehler, der in dieser Geschichte steckt! In Manning Walkers idealistischen Film über Sexualität steckt also nicht nur unglaublich viel Mut, sondern auch mentale Klarheit. Es ist genau wohl das, was die Welt gerade jetzt am meisten gebrauchen könnte.

    Menschliche Komplexität

    Schauspielerin Mia McKenna-Bruce spielt dabei auf der vollständigen Partitur menschlicher Gefühle, wobei ein Faktor besonders an die Oberfläche dringt. Tara steht die Tiefgründigkeit ins Gesicht geschrieben, auch wenn sie ab und zu einen großen Mund beweist, dem Alkohol nicht abgeneigt ist und Spaß an Gesellschaft und auch Zweisamkeit findet. Unter der Oberfläche schlummern gleichzeitig genug pubertäre Unsicherheiten, wodurch ein durch und durch komplexes Psychogramm der jungen Frau entsteht. Mit einer Leichtigkeit inszeniert, hält die Kamera konstant auf ihr Gesicht, wodurch besonders die bereits gestellte Frage, was nach dem ersten Mal passiert, ins Zentrum gerückt wird. Die filmische Magie, wenn erst einmal ein neuer Tag beginnt und Tara von dem Sonnenaufgang umarmt wird, als auch die kognitive Dissonanz, die zum ständigen Begleiter wird, sind Manning Walker dabei gleichermaßen wichtig. Aufgrund der Rat- und Hilflosigkeit, die Tara immer mehr ins Gesicht geschrieben stehen, lässt sich jedoch nichts Gutes vermuten – ein Geniestreich, wie sich später noch herausstellt.

    Wie geht es weiter? Eine Antwort darauf lässt lange auf sich warten, da sich Manning Walker neben dem sexuellen Akt besonders für die Zeit danach interessiert. Ihre Aussage ist – wie der ganze Film –subtiler Natur und mag auch erst einmal recht trivial klingen: Sex bedeutet nicht nur Sex, sondern viel mehr. Manning Walker bleibt konsequent und formuliert all das, was sie dem Publikum sagen möchte, nicht aus, doch wie könnte sie auch? Sie weiß, dass Bilder mehr als tausend Worte sagen können, wodurch eben jene Inszenierung umso cleverer und präziser ausgelotet wird. Statt einem Dschungel aus Impressionen und Emotionen, die nur für Verwirrung sorgen würden, dekonstruiert sie die Geschichte letztlich so weit, dass ihre Botschaft am Ende ganz klar und unkompliziert ausfällt. Die anfängliche Annahme, dass es „nur“ um den großen Sprung vom Mädchen zur Frau geht, stellt sich aufgrund dessen als gänzlich falsch heraus.

    Es geht nicht nur um das erste Mal, nicht nur um die Rolle und den Platz der Frau, sondern um so viel mehr, einschließlich weiblicher Toxizität, wodurch sich auch Männer einmal einen Blick verschaffen können, wie Frauen mit dem eigenen Geschlecht umgehen. Die Frage, ob der Film wichtiger für Frauen oder Männer ist, ist eine von vielen, die aufgrund dessen nicht beantwortet werden kann. Zu universell fällt der Grundtenor, besonders gegen Ende hin aus, wodurch sich sagen lässt, dass absolut jeder diese kleine Filmperle sehen sollte. Einmal wegen der cineastischen Finesse sowie der Wichtigkeit des Themas, welches weder im Film, noch in diesem Text beim Namen genannt wird. Wer es noch nicht erraten hat, dem sei geholfen: „How to Have Sex“ zeigt auf maximal subtilste und einprägsamste Art und Weise, wie eine Vergewaltigung aussieht und wie sie nicht aussieht. Die Lobe für Molly Manning Walker könnten also ganz unterschiedlich aussehen. Ein Lob dafür, dass sie sich nicht unter den Schirm von MeToo stellt und dieses Schlagwort opportunistisch ausnutzt. Ein Lob, dass sie eine ganz eigene cineastische Handschrift mitbringt und gleichermaßen an Ästhetik und Substanz interessiert ist. Besonders aber ein Lob, dass sie am Ende einen Film geschaffen hat, den man erst einmal richtig verstehen muss. „How to Have Sex“ ist damit ein neuer Goldstandard für Coming-of-Age-Filme und bietet sich hervorragend als Double-Feature mit „Aftersun“ an.
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    (Michael Gasch)
    07.11.2023
    21:59 Uhr