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  • Bewertung

    Ist langsam gleich trocken?

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Mit einer Überlänge von 197 Minuten und einer Lehrperson als zentrale Hauptfigur erfüllt „About Dry Grasses“ schon zwei Checkmarken, die man auf der heurigen Viennale des Öfteren vertreten hat: Dreistundenfilme und Schulfilme.

    Ich selbst hatte noch keine Erfahrung mit den sonstigen Werken des Regisseurs Nuri Bilge Ceylan gesammelt. Nur so viel war mir im Vorhinein zu seinem typischen Schaffen bekannt: Eine stattlich lange Laufzeit, ein gemächliches Erzähltempo, langanhaltende Einstellungen und motivisch Isolation und Einsamkeit als generelle Lebensphilosophie.

    „About Dry Grasses“ stellt den Kunstlehrer Samet in den zentralen Mittelpunkt, eine komplexe und nicht immer einfache Figur, deren Lebenssituation geschildert werden soll. Als Lehrbeauftragter wird Samet nämlich für eine Grundschule in einem abgelegenen, verschneiten Dorf in Ostanatolien stationiert. Er hofft, nach der vorgeschriebenen Zeit in seine Wunschstadt Istanbul ziehen zu dürfen. Durch einen drastischen Vorwurf einer Schülerin steht aber diese Chance sowie die Hoffnung Samets auf Messers Schneide.

    Um den Elefanten im Raum direkt aus dem Weg zu räumen: Wie lange fühlt sich der Film an? Nun, man merkt definitiv die drei Stunden. Mindestens im Gesäß. Aber das ist nicht unbedingt negativ zu bewerten. Denn „About Dry Grasses“ entwickelt eine Sogkraft, die einen gespannt oder zumindest interessiert das Geschehen miterleben lässt, trotz oder vielleicht auch wegen der Überlänge. Diese Kraft basiert selbstverständlich auf mehreren Gründen, zuallererst aber das Setting. Das durchgängig verschneite Dorf bietet nämlich eine großartige Kulisse, die sowohl ästhetisch eingefangen wird als auch metaphorisch ihre Legitimierung verfestigt. Dadurch drückt die Bildgestaltung Melancholie aus wie kaum eine zweite. Und zugleich wird die Isolation betont. Durch die Schneemassen sitzen die Figuren sowohl metaphorisch als auch regelrecht im Dorf fest und sehen kaum Möglichkeiten, hinfort zu gelangen. Deshalb wirkt das extrem langsame Erzähltempo ebenfalls passend.
    Samet, der Protagonist, wird charakterlich als ambivalente Erscheinung gezeichnet. Diese schauspielerische Herausforderung meistert Hauptdarsteller Deniz Celiloğlu großartig. (Dabei weist die zweite Hauptrolle von Merve Dizdar eine Performance ab, die mindestens auf gleichem Niveau agiert und in Cannes zurecht ausgezeichnet wurde). Glücklicherweise gelingt es „About Dry Grasses“ hier, einerseits Mitgefühl für Samet zu erreichen, indem er (als einer der wenigen) einen pädagogisch wertvollen Umgang ohne große Bestrafung mit seinen Schüler*innen pflegt und die Ungerechtigkeit des Vorwurfs umso unnachvollziehbarer erscheint. Andererseits stößt die ignorante Frustration Samets und das teils fragwürdige Verhalten, das sich immer weiterentwickelt, auf ein Unverständnis des Publikums. Durch die Ambivalenz findet die imperfekte Menschlichkeit der Hauptfigur Betonung und lässt philosophische Fragen aufkeimen.

    Generell kann man sagen, dass „About Dry Grasses“ ein besonders philosophischer Film geworden ist. Vollgepackt mit Weltanschauungen wird diskutiert, wie man auf Ungerechtigkeit reagieren soll, woher man Glück in einer trostlosen Situationen ziehen kann, inwiefern Freundschaften und Liebeleien an Orte gebunden sind und davon definiert werden oder ob die eigene Werthaltung gegen globale Probleme ankämpfen kann. Dieser Anspruch hat eben auch teilweise über 20-minütige Szenen zur Folge, in denen zwei Figuren über politische Themen verbal streiten.

    Filmisch lässt „About Dry Grasses“ aber auch Verschnaufpausen zu, um über die Fragestellungen und das Geschehene nachdenken zu können. Da überzeugen die beeindruckenden Landschaftsaufnahmen und ausgeklügelt fotografierte Einstellungen, die neben der inhaltlichen Tiefe auch visuell überzeugen.

    Hätte man jede Szene gebraucht, so wie sie nun im Film gelandet ist? Vermutlich nicht unbedingt. Aber eben das macht „About Dry Grasses“ sowie die Filmografie von Nuri Bilge Ceylan aus. Der Film fordert einen heraus – inhaltlich, identifikationstechnisch und bezüglich der eigenen Aufmerksamkeitsspanne.
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    (Tobit Rohner)
    28.10.2023
    09:56 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

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