Filmkritik zu Saint Omer

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    Wenn Opfer zu Täter werden

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    2013 sorgte ein dramatischer Vorfall in Frankreich medial für viel Aufsehen. Eine Frau senegalesischer Abstammung setzte ihr 15-monatiges Kind an einem windigen Strand aus und somit dem kaum vermeidbaren Ertrinkungstod. Dieses tragische Ereignis, das als „Kabou-Affäre“ (benannt nach der Täterin Fabienne Kabou) betitelt wurde, regte die Dokumentaristin Alice Diop – selbst senegalesischer Abstammung – zu ihrer ersten Spielfilmarbeit an.

    Inspiriert von den wahren Vorkommnissen, erzählt „Saint Omer“ von der jungen Pariserin Laurence Coly (Guslagie Malanda). Die aus dem Senegal stammende Studentin wird – nicht ungleich dem realen Vorbild – bezichtigt, ihr eigenes Baby in der Meeresflut ertränkt zu haben. Dem folgenden Gerichtsprozess wohnt die Autorin und Uniprofessorin Rama (Kayiije Kagame) bei, die aktuell selbst schwanger ist und die Verhandlungen mit sachlichem Blick beobachtet. Sie möchte den Fall in Form eines Buches nacherzählen, das sich an der Struktur eines griechischen Mythos bedient.

    Was treibt Menschen zu solchen Gräueltaten? Und dienen nie aufgearbeitete Traumata als glaubwürdige Rechtfertigung für Schandtaten dieses Ausmaßes? Schwierige Fragen, deren sich das knapp zweistündige Gerichtsdrama auf aufrüttelnd-mutige Weise stellt. Mutig insofern, da dem Film ein sagenhaft empathischer Zugang zu seiner schwierigen Hauptfigur gelingt. Und dies, ohne die unaussprechlichen Taten in auch nur irgendeiner Weise herunterzuspielen oder gar zu romantisieren. Ein waghalsiges Unterfangen, das das Drama geradeso meistert. In was für einen unerbittlichen Kampf das mütterliche Dasein ausarten kann, wenn man selbst einem Leben voller Hass und Häme ausgesetzt war, wird hier exemplarisch veranschaulicht. Ein Kampf, der eine jede Mutter an die Grenzen treiben und sogar die eigene Identität rauben kann. Dieses erfahrene Leid verbindet das Schicksal von Laurence mit der Vergangenheit der im Gerichtssaal anwesenden Ramy – Parallelen, die der Film bewusst zieht, um seine These zu verstärken. Diops narratives Debüt verdeutlicht wie eine Mischung aus systematischem Rassismus und dem Fehlen leistbarer Auffangnetze unscheinbare Personen zu Wahnsinnstaten drängen kann – und das unangenehm, nüchtern aufgeschlüsselt und durch und durch packend.
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    (Christian Pogatetz)
    29.09.2022
    20:15 Uhr