Filmkritik zu Krai

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Unterhaltsamer, semi-dokumentarischer Blick auf ein Dorf

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    „Ich hoffe du bist nicht da, um deinem Mutterland Schande zuzufügen“, ruft eine Frau quer über den Hauptplatz der kleinen russischen Grenzstadt Jutanovka. Die angesprochene Person, Regisseur Aleksey Lapin, sitzt der Menge entspannt gegenüber, und versucht diese zu beruhigen. Er erklärt seinen Zuhörern, die sich für dieses die Stadt aufrüttelnde Event mit derselben Schaulust eingefunden haben wie andere für den Jahrmarkt, dass es um die Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner gehen soll. Eine vage Antwort, und auch der einzige Anhaltspunkt des Dorfes, wenn es wiedergeben will, was diese Invasion von der Außenwelt, die die Stadt aus ihrem Schlaf der Bedeutungslosigkeit erweckt hat, eigentlich ist.

    „Etwas historisches“ ist aber im Kern dann doch nicht der Fokus von Lapins Filmdebüt, das in der Sektion Features auf der 59. Viennale gezeigt wurde. Auf Deutsch bedeutet „Krai“ so viel wie Land oder Boden, und es ist der Boden, auf dem der Film spielt, sowie seine Bewohner, wofür sich Lapin interessiert. Der in Wien lebende russische Regisseur hat es geschafft, ein unprätentiöses, unterhaltsames Porträt einer Stadt und ihres Alltags zu erschaffen. Eine Stadt, durch die er mit seinen Vorfahren verbunden ist, und in der er doch ein Fremder ist.

    Der Film funktioniert auch ohne Plot, den man höchstens in dem Ausmaß zusammenfassen könnte, dass eine Filmcrew, die auch selber im Bild zu sehen ist, nach Freiwilligen sucht, die in ihrem „historischen Film“ Rollen übernehmen wollen. Diese Set-up ist auch die Ausgangslage für die Eröffnungssequenz des Films, in dem ein alter Mann Lapin und seinen Cousin Seva anspricht, die im Hinterland Pilze sammeln. Er kann Gedichte vortragen, verspricht er, und rezitiert auch einer stoischen, theatralischen Position heraus lange traditionelle Balladen. Doch er ist nicht der einzige. Immer wieder treten Einwohner an die Filmcrew heran und fragen, ob sie an dem Film teilnehmen können. Als Lapin Teenager-Mädchen fragt, was ihre Motivation ist, antwortet sie: „Ich will berühmt sein.“

    In dieser semi-realistischen Szenerie lässt sich Lapin jedoch nicht zu einem überstrapazierten billigen Trick im Sinne eines „Film in einem Film“ verleiten. Seine sichtbare Präsenz in der Stadt, so wie die Spaziergänge seines Cousins Seva, der als Tor in diese Community fungiert, agieren als eine Schwelle in den sich stets wiederholenden Alltag, den immer fortwährenden Kreislauf der Zeit oder ein Blick in das Konstrukt von Zeit selber. Der Schnitt verleiht dem Ganzen einen wiederkehrenden Rhythmus. Seva, der den Leuten wiederholt klarmachen will, dass die Stadt ein Gasleck hat, was das Verhalten aller beeinflussen würde. Die Filmcrew, die immer mit dem Auto von Drehort zu Drehort fährt. Die alte und junge Generation, die sich bei einem tagelangen Stromausfall um Kerzen- und Lagerfeuerlicht versammelt und über ihre Erfahrungen und Wünsche spricht.

    Diese Rückkehr zu anachronistischen Methoden, als auch der Vergleich des Stromausfalls durch die ältere Generation mit dem post-kommunistischen Schock der „wilden 90er“, wirken abstrakt, aber der Film interessiert sich auch nicht dafür diese besonders hervorzuheben. Zeit und deren Verankerung ist nicht von Bedeutung. Die geographische Abgelegenheit von der Außenwelt ermöglicht die Freiheit, nicht von diesen Standards gebunden zu sein. Die Veränderungen im Alltag sind subtil, ob es nun die Frau ist, die die neuen Tapeten im Schlafzimmer ihrer Kinder aufhängt, alte Autos, die langsam durch neuere Modelle verdrängt werden, oder eine junge Frau die das westliche Breakdancen lernt.

    Der Film präsentiert sich komplett in Schwarz-Weiß gedreht, mit einem manchmal ausladenden, und dann wieder dicht arrangierten 4:3-Framing. Diese offenbart nicht nur die weiche, hügelige Landschaft rund um Jutanovka, oder die urbane Zersiedelung der Bevölkerung. Es katapultiert die zwischenmenschlichen, liebevoll beobachteten Interaktionen der Community in den Vordergrund, und entzieht sich so den eingangs erwähnten Vorwurf, dass dieser Film in irgendeiner Weise das Mutterland schändigen könnte.
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    (Susanne Gottlieb)
    31.10.2021
    17:41 Uhr
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