Filmkritik zu Midnight Family

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Mitreißende Doku über Rettungseinsätze in Mexico City

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    „In Mexico City, the government operates fewer than 45 emergency abulances for a population of 9 million.“ Mit diesen Worten beginnt die packende Dokumentation von Luke Lorentzen über eine Familie, die sich diesen Gegebenheiten angepasst hat.

    Familie Ochoa besitzt ein privates, sich an der Grenze zur Illegalität befindendes Rettungsunternehmen, bei dem alle männlichen Mitglieder der Familie tätig sind: der Vater Fer, seine beiden minderjährigen Söhne Juan und Josue sowie der Onkel der beiden, Manuel. Luke Lorentzen begleitete Familie Ochoa auf ihren allabendlichen Rettungseinsätzen auf den Straßen Mexico Citys, wodurch eine Dokumentation entstand, die mitreißend und erschütternd zugleich ist. Explizite Aufnahmen von Unfallstellen wechseln sich ab mit wilden Verfolgungsjagden, die sich die Ochoas mit konkurrierenden Rettungsunternehmen liefern, unterbrochen vom Alltagsleben der Familie, das sich zumeist ebenfalls im Rettungswagen abspielt.

    So wird der halbwüchsige Josue täglich mit dem Rettungswagen von der Schule abgeholt und Juan lässt seine Erlebnisse in explizit geschilderten Telefonaten mit seiner Freundin Revue passieren. Die Ochoas, deren gutherzige Charaktere im Laufe der Handlung immer wieder betont werden, haben sich aber auch auf ein Geschäft eingelassen, welches nicht nur moralisch äußerst schwierig zu betrachten ist, sondern welches auch nicht ganz legal ist. Aufgrund der prekären Verhältnisse innerhalb des mexikanischen Gesundheitswesens werden sie aber immerhin geduldet – jedenfalls solange sie die Polizei bestechen, die sie immer wieder von ihrer Arbeit abhalten will.

    Vorne im Fahrzeug befindet sich eine Kamera, die die täglichen Einsätze mit dem Krankenwagen aufzeichnet. So hat man als ZuseherIn das Gefühl, dass man einen sehr unmittelbaren Zugang zu dem Gezeigten geboten bekommt. Wenn man sieht, wie die Ochoas mit Angehörigen ihrer transportierten PatientInnenn wegen dem Geld verhandeln - welches sie für sich beanspruchen, da sie ja Arbeit verrichtet haben - fühlt man sich zwiespältigen Gedanken ausgesetzt: Einerseits helfen sie jährlich dutzenden Verletzen, die ohne sie oftmals keine medizinische Hilfe bekommen würden, da kein Transport ins Krankenhaus verfügbar ist. Andererseits machen sie sich das Leid der PatientInnen zunutze und auch ihre eher gering gehaltenen medizinischen Versorgungsmaßnahmen sind skeptisch zu betrachten. Zu guter Letzt müssen sie ohnehin auf die Gutmütigkeit ihrer beförderten PatientInnen hoffen, da sie rechtlich gesehen nichts in der Hand haben. Oft bekommen sie dann auch gar kein Geld für ihre verrichteten Dienste - manchmal weil die PatientInnen nicht zahlen wollen, manchmal weil sie es aber auch einfach nicht können.

    Schlussendlich handelt es sich bei „Midnight Family“ um eine tiefgründige Doku über eine Familie, deren Alltags- und Berufsleben geprägt ist von der Frage nach der finanziellen Sicherheit. Der ständige Wechsel zwischen ruhigen Momenten und solchen, in denen deutlich der Adrenalinspiegel steigt, sorgt auf jeden Fall für eine Achterbahn der Gefühle. Und auch wenn man sich die Abgründe des mexikanischen Gesundheitsweisen sowie die Korruptheit der Polizei ansieht, lässt einen die demonstrierte Unfairness sicherlich nicht kalt. Die Ochoas mögen aus dieser Unfairness profitieren. Allerdings retten sie dabei auch sehr viele Menschenleben. Und das ist auch der übergeordnete Gedanke, der Lorentzens Dokumentation umgibt.

Midnight Family

Mexiko 2019
Regie: Luke Lorentzen
Darsteller: Juan Ochoa