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  • Bewertung

    Atemlose Rekonstruktion eines Massakers

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2018
    „Das werdet ihr nie verstehen“. Ernst blickt die junge Kaja in die Kamera, fordert den Zuschauer mit ihrem Blick heraus und er stimmt zu. Nein, er wird nie verstehen können was in diesen 72 Minuten am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya passiert ist, als Anders Breivik 69 Jugendliche erschoss. Aber dann wendet sie den Blick und hebt das Handy ins Bild. Ach, sie telefoniert mit ihren Eltern. Das Massaker ist noch einige Minuten weg. Ein kleiner gelungener Meta-Ebene Trick und der Auftakt zu einem Film, der sein Publikum spaltet. Darf und soll man das eigentlich verfilmen?

    In einer einzigen langen Einstellung zeichnet Regisseur Erik Poppe eine eigene Version der Geschehnisse auf der Insel nach. Fokus ist nicht der immer wieder ins Rampenlicht gerückte Täter, sondern die Jugendlichen, die über eine Stunde um ihr Leben kämpften. Aus Ehrfurcht vor den Opfern wurden fiktionale Figuren kreiert, die Timeline und der Ablauf der Ereignisse bleibt erhalten. Im Zentrum des Geschehens steht die 19-jährige Nachwuchspolitikerin Kaja (Andrea Berntzen, eine wahre Entdeckung), die gemeinsam mit ihrer Schwester Emilie (Elli Rhiannon Müller Osbourne) an dem Jugendcamp teilnimmt. Als die ersten Schüsse fallen werden Kaja und Emilie getrennt. Verzweifelt beginnt Kaja auf der ganzen Insel nach der Schwester zu suchen, trifft immer wieder auf verängstigte Jugendliche, verharrt mit Menschen die im Sterben liegen und muss Unterschlupf suchen, wann immer die Schüsse näherkommen.

    Es ist ein waghalsiges Projekt, das Poppe und seine Produzenten hier inszenieren. Muss man das Schicksal der Jugendlichen auf dieser Insel ausschlachten, ist das eine Geschichte die erzählt werden sollte? Ja, meint der Regisseur selber. Laut ihm sei die Erinnerung an die Ereignisse auf der Insel am Schwinden. Es sei nie zu früh für den Film, eher sei es irgendwann dann zu spät. Zudem sei der Faschismus in Europa seit ein paar Jahren wieder im Aufschwung. Breivig war ein bekennender Rechtsextremer gewesen, das Attentat sein „Protest“ gegen die Einwanderungspolitik.

    Ob der Film nun Existenzberechtigung hat oder nicht sei erst mal dahingestellt, den Machern kann man aber die hervorragende Inszenierung zugutehalten. Kameramann Martin Otterbeck hält das Ereignis in einer einzigen langen Einstellung fest. Hier ist nichts getrickst, es gibt keine versteckten Schnitte. Über 72 Minuten lang entfaltet sich ein perfekt getimtes Drama auf der kleinen Insel. Dafür hatte das Team auch monatelang geprobt. Insgesamt fünf Takes gibt es von dem Film, einer schaffte es auf die Kinoleinwand. Die wackelnde Kamera, die sich nie zu weit von Kaja entfernt, schafft somit nicht nur den Eindruck, selber vor Ort zu sein, sie kreiert auch nagende Suspense. Man weiß nicht mehr als Kaja, man hat keine Ahnung ob Breivik nicht in der nächsten Ecke lauert. Als er schließlich kurz bildlich zu erhaschen ist, schwenkt die Kamera auch in dem Moment weg, als Kaja in einer Felsspalte Zuflucht sucht.

    Ein weiteres Lob geht an die hervorragenden Darsteller. Die Produzenten hatten für den Film in erster Linie mit Schauspiel-Newbies und Amateuren gearbeitet, auch Hauptdarstellerin Andrea Berntzen, die einen Hauch Jennifer Lawrence in sich trägt, verdient sich in dieser Rolle ihre ersten Sporen. Und Berntzen überzeugt auf voller Linie. Es ist beeindruckend das eine Schauspieldebütantin so viel Emotion in eine Rolle bringt, die sie über eine Stunde ohne Cut oder weitere Takes durchtragen muss.

    Dennoch konnten sich die Autoren es nicht verkneifen ein paar alterprobte Klischees in die Handlung einzuweben, die zu dem Ablauf der Ereignisse aber wenig beitragen. Nicht nur muss der Zuschauer erst minutenlang einem Streit der braven Kaja mit ihrer „schwarzes Schaf“-Schwester zuhören, sie müsse mehr Anteilnahme gegenüber dem Bombenattentat in Oslo zeigen (vor der Insel hatte Breivik in der Hauptstadt zwei Bomben gezündet, war aber zu dem Zeitpunkt noch nicht ausgeforscht), später singt sie ihren verängstigten Kollegen auch noch „True Colors“ vor, um sie zu beruhigen. Das wirkt nicht nur überholt, sondern auch etwas dumm, da sie so leichter zu hören und orten ist.

    Trotz des Anspruchs, möglichst unverfälscht das Traumata der Jugendlichen auf der Insel zu zeigen und auch ihrer Sicht eine Stimme zu geben, ist „Utøya 22. Juli“ kein Film geworden der wirklich eine Stimme mit einer Botschaft findet. Sicher, man ist geschockt und erst einmal verstört, aber im Endeffekt sind es nur 72 Minuten von Jugendlichen in Todesangst, die quer über die Insel hetzen. Sicher wollte Poppe mehr erreichen als eine Fingerübung in minutenlanger Suspense zu inszenieren. Eine Einblendung am Ende, dass die Regierung und die Armee viel zu lange brauchten um zu reagieren, öffnet vielmehr ein neues Fass als wirklich zu vermitteln, warum diese Geschichte erzählt werden musste.
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    (Susanne Gottlieb)
    28.03.2018
    13:34 Uhr
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