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    Ein unbarmherziger Blick hinter die Pornoindustrie

    Exklusiv für Uncut vom Karlovy Vary Film Festival
    Die Tücken der Pornoindustrie wurden selten so geschickt aufgezeigt, wie im Spielfilmdebüt der schwedischen Regisseurin Ninja Thyberg. Der Werdegang eines schwedischen Starlets, die in L.A. Erfolg haben will, wurde am Karlovy Vary Film Festival in der Sektion „Horizons“ gezeigt.

    „Business or pleasure“, fragt der Einwanderungsbeamte, als Linnea (Sofia Kappel), die sich nun Bella Cherry nennt, in die USA einreist, um sich ihren Traum einer Pornokarriere zu erfüllen. „Pleasure“, kaut die Blondine etwas auf der Antwort herum, ein schnelles Zwinkern in Richtung was man von dem Film erwarten darf. Und dabei ist alles, das Rasieren und Spülen der Genitalteile, exzessive Make-up Sessions und alles fordernde Fotoshoots, Set-ups für verschiedene Fetischvideos, sowie der latente Sexismus und das Unter Druck setzen der weiblichen Figuren.

    Die Tatsache, dass Thyberg wie sie es nennt, vor dem Film eine „radikale Anti-Porn-Aktivistin“ war, hilft dem Film vermutlich, dass sie sich ungleich anderer Regisseure, die sich vielleicht auf billige Gratifikationen oder Verurteilungen konzentriert hätten, lieber auf die Arbeitsbedingungen konzentriert. Ihre Bella Cherry muss sich nicht mit der Verurteilung ihrer Arbeit durch andere Menschen herumschlagen, genauso wenig wird sie für ihre Sexualität durch einen Übergriff „bestraft“.

    Der Schock kommt eher von den ungeschönten, brutalen Bildern, der Ausbeutung auf der die Industrie beruht, und den sich stets verschiebenden moralischen Werten. Als eine Konkurrentin sie bei einem Videodreh bloßstellen will, wird Bella Cherry beim Sexakt für sie ungewöhnlich brutal, würgt und bespuckt ihre Partnerin. Als sie später die Gewissensbisse ereilen, meint diese auf Bellas Entschuldigung nur „Wofür?“.

    Ebenso im Fokus sind die miteinander konkurrierenden Agenturen, das mit Fotos und Selbst-Promotion vollgestopfte Instagram, die exzessiven Partys und Fan-Meetings. Bella, die als Newbie zunächst noch überfordert und in manchen Bereichen auch naiv ist, versteht es schnell die Regeln des Spiels zu durchschauen und ihren Aufstieg in Angriff zu nehmen. Als sie sich nach einem besonders brutalen übergriffigen Fetisch-Dreh nicht von ihrem Agenten entsprechend in Schutz genommen fühlt, kündigt sie und stellt sich dabei umso mehr für radikale Drehs zur Verfügung. Interessanterweise verschwimmen die Grenzen noch starker, je höher sie sich im Business arbeitet, Safe Words und persönliche Limits sind hier ein Fremdwort.

    Das geht Hand in Hand mit der Entwicklung, die Bella als Mensch durchmacht. Zu Beginn des Films freundet sie sich mit der Mitbewohnerin und ebenfalls als Pornodarstellerin arbeitenden Joy (Revika Anne Reustle) an, die als ihr Guide durch die Industrie fungiert und ihr all die nötigen Tipps und Tricks zeigt. Sie ist es auch, die sie auf die Existenz der „Spiegler“-Mädchen, die elitäre Pornodarsteller-Aufstellung des (echten) Mark Spiegler, aufmerksam macht. In der festen Ambition, in diese Gruppierung aufgenommen zu werden, schmeißt Bella ihre Restriktionen, aber auch bald ihre Loyalitäten über Bord.

    Viel Lob geht auch an Kappel, die in ihrer ersten großen Rolle eine nicht so leichte Rolle annimmt. Umzingelt von realen Pornostars oder weiteren Newbies im Business, verleihen die Performances dem Ganzen eine gewisse Erdung, den Feel eines Dokumentarfilms, und weniger einen inszenierten Spielfilm-Vibe.

    Enttäuschend hingegen ist das Ende, das wirkt, als hätte Thyberg zu sehr nach einer zufriedenstellenden, idealistischen Lösung für den Film gesucht. Für einen Film, der so viel zu sagen hat, wird er am Schluß dann überraschend leer und gefügig.
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    06.10.2021
    23:41 Uhr
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    Dekonstruktion der Pornoindustrie

    Exklusiv für Uncut vom Sundance Film Festival
    Unter allen Filmbeiträgen des diesjährigen Sundance Film Festival, war Ninja Thybergs Drama „Pleasure“ bestimmt eines der mutigsten und ebenso verstörendsten. Die schwedische Regisseurin knüpft damit an ihren gleichnamigen Kurzfilm von 2013 an, der ebenfalls in der Erotikfilmindustrie spielt, verlegt die Handlung aber nach Los Angeles, das als Produktions-Hotspot für Pornofilme gilt. Im Mittelpunkt des schonungslosen Blicks auf die Welt der Erwachsenenfilme steht Newcomerin Sofia Kappel in ihrer ersten Schauspielrolle. In weiteren Rollen sind größtenteils Personen zu sehen, die tatsächlich mehr oder weniger im Pornogeschäft tätig sind, unter anderem die Branchengröße Mark Spiegler, der mit „Spiegler Girls“ eine der renommiertesten Porno-Agenturen leitet. Kurz nach seiner Uraufführung beim Sundance Film Festival, hat sich der Filmvertrieb A24 die Rechte an dem Werk gesichert. Ob des extrem expliziten Inhalts und der rohen Darstellung sexueller Gewalt, kündigte A24 an, den Film in zwei Versionen veröffentlichen zu wollen, einmal ungeschnitten, einmal in einer zensierter Fassung.

    „Pleasure“ begleitet die 19-jährigen Schwedin Linnéa, die sich selbst Bella Cherry nennt, nach ihrer Ankunft in Los Angeles. Bella ist hier, um ihren großen Traum zu erfüllen: Der nächste große Pornostar zu werden. Nach ihrem allerersten Dreh postet sie provokant laszive Fotos von sich auf in sozialen Netzwerken, überzeugt davon dort angekommen zu sein, wo sie hingehört. Doch schon bald hegt sie Zweifel, ob ihre Karrierewahl die richtige war. Die überfüllte Wohngemeinschaft voller angehender Pornodarstellerinnen zehrt an ihren Nerven und Rollen sind heiß umkämpft. Nach einer besonders traumatischen Erfahrung bei einer Filmaufnahme, wird Bella ihre Ohnmacht gegenüber den Machthabern der Industrie bewusst und sie ist kurz davor nach Schweden zurückzukehren. Doch ein letzter Versuch sich bei den Business-Größen bemerkbar zu machen, scheint ihr schlagartig einen Karrieresprung zu versprechen.

    Hauptdarstellerin Sofia Kappel, die sich ohne jegliche Schauspielerfahrung auf diese schwierige Rolle eingelassen hat, gelingt in „Pleasure“ eine furchtlose und authentische Darbietung, die bestimmt sehr viel Mut gekostet hat. Mit einem sachlichen, beinahe klinischen Blick auf die Sexualität der Charaktere wird das Gezeigte weder skandalisiert, noch romantisiert, während er den Zusehern Glanz- und Schattenseiten der artifiziellen Industrie vor Augen führt.

    Der Film ist keine leichte Kost und will es auch nicht sein. Viel mehr wird dargestellt, wie schnell die Grenzen zwischen Einverständnis und Missbrauch verwischen können, wenn man sich allein als Frau an einem Set mit lauter Männern wiederfindet und wie sehr die Branche von patriarchalischen Machtstrukturen geprägt ist. Diese unverhohlene Misogynie kommt insbesondere in einer der härtesten Szenen des Films zum Tragen, in der sich Bella während eines Hardcore-Drehs trotz ihres Einspruchs von den männlichen Beteiligten emotional erpresst fühlt weiterzumachen, ein Erlebnis, an dem sie fast zerbricht. Um Bellas Eindrücke im Zuge der Filmaufnahmen noch besser nachvollziehen zu können, wechselt die Kameraeinstellung während dieser häufig in eine Point-of-View-Ansicht, die ungeschönt die männliche Dominanz gegenüber der weiblichen Unterwerfung abbildet. Diesen traumatischen Erfahrungen der Protagonistin stehen Aufnahmen echt freudiger Momente entgegen: Mädelsabende mit ihren Mitbewohnerinnen zeigen Bella in ehrlichen Augenblicken, die bewusst machen, dass sie eine junge Frau ist, die eigentlich nach Anerkennung und Akzeptanz strebt. Darauf folgen aufgedrehte Partynächte, die ihr die scheinbar glamouröse Seite der Erotikindustrie aufzeigen, der sie so dringend angehören will. Während sich Mitstreiterinnen aus Mangel an Perspektiven zur Arbeit genötigt sehen, sieht sich Bella keineswegs als Opfer, sondern entscheidet sich wieder und wieder dafür, diesen Weg zu gehen. Dass sie dabei immer mehr von sich selbst aufgeben muss, wird ihr allerdings erst mit der Zeit richtig bewusst.

    Trotz seines plakativen Titels, „Pleasure“, zu Deutsch Vergnügen, bereitet der Film den Zusehern eher weniger, und sollte auch mit Vorsicht angesehen werden, da er von vielen gewiss als verstörend und potentiell retraumatisierend empfunden werden kann.

    Ein aufwühlendes und realistisches Porträt der facettenreichen Erotikfilmindustrie, das einem noch lange im Gedächtnis bleiben wird!
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    13.02.2021
    20:38 Uhr