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    Der errungene Mut zum Aufbruch

    Wir alle kennen diese Träume, oder besser gesagt: Albträume, in denen wir weit von zuhause weg sind, womöglich auf Reisen, und dann haben wir das Wichtigste vergessen, was immer das auch sein mag, aber es ist etwas Unverzichtbares. Es gibt auch Träume, in denen wir versuchen, von irgendwo wegzukommen, meist aus dunklen Räumen, und jeder Schritt fühlt sich so an, als hätte man kiloweise Blei um die Knöchel. So schleppt man sich zum Licht, kommt aber niemals wirklich voran. Etwas hält uns zurück, in der Finsternis. Ein Trauma, eine Gestalt, eine Geschichte. Etwas Erlebtes. Und dann ist da Babak Anvaris Film. Eine Allegorie auf die Angst, Wichtiges zurücklassen zu müssen. Die Heimat zurücklassen zu müssen, das Zuhause oder das, was mehr ideellen als materiellen Wert hat, denn wir leben nun mal in einer Welt voller Dinge, mit denen wir manchmal unsere Seele teilen.

    Für die Flucht weg aus dem eigenen Ursprung braucht es Kraft, Mut und Zähigkeit. Die Flucht ist meist die Reaktion auf den Totalzerfall des Systems – sprich: Krieg. In Under The Shadow lebt Shideh (Narges Rashidi) mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann zur Zeit des Iran-Irak-Konflikts in Teheran. Die Lage spitzt sich täglich zu, im Nachbarland Irak werden die Raketen Richtung iranischer Hauptstadt in Stellung gebracht. Immer wieder jault die Sirene, um die Bewohner in die Luftschutzkeller zu befehlen. Shidehs Ehemann, ein Arzt, wird eines Tages einberufen – er muss an die Front. Zurück bleiben Mutter und Kind, und doch steht ihnen die Möglichkeit offen, du den Großeltern zu flüchten, außerhalb der Stadt, wo die beiden sicherer wären als hier in diesem kleinen Wohnhaus, wo all die anderen Parteien bereits darüber nachdenken, alles stehen und liegen zu lassen – oder zumindest das meiste. Shideh zögert, doch als eine Rakete das Haus trifft, scheint die Gefahr akuter denn je. So weit, so sehr Kriegsdrama aus der Sicht der Zivilbevölkerung. Wo ist nun der Horror?

    Tochter Dorsa ist fest davon überzeugt, dass mit dem ersten Luftangriff und mit den Stürmen, die plötzlich toben, ein Djinn sich ihrer angenommen hat. Und zwar keiner, der, blauhäutig und dauergrinsend, drei Wünsche erfüllt. Sondern etwas Böses, Hinterlistiges. Etwas, das Mutter und Tochter daran hindert, fortzugehen. Das fängt damit an, dass der Djinn die heißgeliebte Puppe von Dorsa versteckt. Ohne dieses Spielzeug ist an Aufbruch nicht zu denken. Und sehr bald schon bleibt es nicht nur bei diesem Schabernack – der Dämon treibt sein Verwirrspiel bis zum Äußersten.

    Auf Babak Anvari wurde ich erstmals aufmerksam, als sein perfider und daher auch unberechenbarer Psychothriller I Came By letztes Jahr auf Netflix erschien. George McCay wird da zum Opfer eines sinistren Hugh Bonneville. Einige Jahre zuvor gelingt ihm auch mit diesem subtilen und gewieften Escape Home-Thriller ein regelrechter Geheimtipp, der mit Leichtigkeit Elemente des Horrors mit jenen des Psychodramas aus dem Antikriegs-Genre verschachtelt. Die Metaebene offenbart sich wie der schwarzweiß gemusterte Dschilbab des paranormalen Eindringlings, das erzwungene Verharren am Ort der Gefahr wird zum Sinnbild für Verlust, Abschied und der Furcht davor, selbst zurückgelassen zu werden. So wie der Djinn die Möglichkeiten der Mutter aussetzt, ihren fürsorglichen Pflichten nachzukommen, so wird die Suche nach der Puppe zum innerfamiliären Nervenkrieg. Anfangs offenbart sich Under the Shadow in so pragmatischem Stil, wie ihn Asghar Farhadi gerne anwendet, um dann das Metaphysische im wahrsten Sinne des Wortes durchbrechen zu lassen und einige Jumpscares aufzufahren, die unerwartet passieren und nie zum Selbstzweck verkommen. Sie sind Teil dieses Halbwach-Zustandes, in welchem sich der ganze Film befindet – weil man eben nicht glauben und nur schwer annehmen kann, dass das Leben, wenn Krieg herrscht, in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher ist. All die Ängste, die dazugehören, mutieren dabei zum mythischen Quälgeist.


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    02.03.2023
    16:14 Uhr
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    Doppelbödiger Horror in Teheran

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Dass der Westen etwas überfordert ist damit zu verstehen was im fruchtbaren Halbmond vor sich geht ist nix Neues & sieht man besonders in jüngerer Zeit auf Schritt und Tritt.
    Daher kann man für jeden Film dankbar sein, der versucht diesen Erdteil für westliche Augen etwas verständlicher zu machen. Dies ist so ein Film und er macht’s auf ganz besondere Weise, denn „Under the shadow“ ist ein Horrorfilm.

    Vor der historischen Kulisse des knapp post-revolutionären Teheran wird man eingeführt in den Alltag einer Kleinfamilie der oberen Mittelschicht: Vater Arzt, selbstbewusste Mutter, Tochter. Im Hintergrund der erste Golfkrieg, doch dieser ist vorerst kaum spürbar. Ganz im Gegensatz zu den Repressionen mit denen eine junge Mutter nach der islamischen Revolution zu kämpfen hat: Schleierpflicht, kritische Blicke und Studienverbot wegen früherer politischer Betätigung.
    Doch immer näher rückt der Krieg, trotzdem weigert sich die im Zentrum der Erzählung stehende Mutter deshalb klein beizugeben. Auch als ihr Mann an die Front berufen wird, ja selbst dann noch als eine Rakete im obersten Stock des Wohnhauses einschlägt weigert sie sich die Stadt zu verlassen.
    Doch mit dem Marschflugkörper scheint ein übersinnliches Unheil das Haus zu befallen haben. In ihrer hartnäckigen Weigerung sich den allgemeinen Erklärungen für das Grauen zu fügen bleibt die Mutter zuletzt allein & scheint einer übermenschlichen Macht ausgeliefert.

    Auch wenn dieser Film viel Spielraum für tiefergehende Interpretation lässt, er funktioniert vor allem und in erster Linie als Horrorfilm. Wohlpositionierte Schockeffekte, perfektes Sounddesign & ein Kamerablick der immer auch dem Zuseher letzte Fragen offen lässt.

    Aber eben gerade weil dieser Film nicht vordergründig erklärend oder gar rechtfertigend daherkommt, sondern weil er das Gefühl des Ausgeliefertseins und blanker Panik dem Zuseher geschickt vor kriegerischem Hintergrund injiziert, leistet er wohl weit mehr als so manche Doku: es scheint nachvollziehbar wie es sich anfühlt wenn eine unheimliche Macht plötzlich jedes normale Leben unmöglich macht, auch wenn man sich noch so sehr dagegen wehrt.

    Möge dieser Film mit Preisen überhäuft werden und bitte, bitte, den Auslandsoscar gewinnen!
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    27.10.2016
    21:52 Uhr