The Quiet Girl

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Forumseintrag zu „The Quiet Girl“ von Andretoteles

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Andretoteles (18.10.2023 08:48) Bewertung
Im Kleinen das ganz Große
Exklusiv für Uncut
„An Cailín Ciúin“ (englisch: „The Quiet Girl“) ist das bemerkenswerte Debüt von Auteur Colm Bairéad. Basierend auf der Kurzgeschichte „Foster“ von Claire Keegan, schrieb und inszenierte der irische Filmemacher den ersten Film in irischer Sprache, der als bester internationaler Spielfilm für den Oscar nominiert wurde. Cáit heißt das titelgebende stille Mädchen, welches uns mitnimmt auf eine Reise in die Kindheit. Eine Reise von ihrer Einsamkeit zum erstarkten Aufblühen in einer neuen Familie. Bei Verwandten verbringt Cáit ihre Sommerferien und erkennt die Poesie der Geborgenheit.

Mit sanftem Spiel und gemächlich-eindringlichem Tempo gelingt dem Porträt das Abstecken der Lebensumstände. Da ist zunächst die leibliche Familie. Leicht überzeichnet und dezent stereotypisiert, sticht der vulgäre, an Kindern desinteressierte Vater heraus. Ein Symbol für veraltete Männlichkeit, falschen Stolz und gesellschaftlich akzeptierte „Vaterschaft“ in traditionellem Gewand. Sogar Andeutungen von Missbrauch werden gewahr. Im Alltag der Großfamilie mit vier Kindern geht nicht nur Cáits Mutter unter, die Hauptfigur selbst auch. Isolation, Verachtung in der Schule und wenig Aufmerksamkeit prägen ihr Leben. Hilfe sucht sie im hohen Gras oder unter dem Bett. Verstecke, die sie unsichtbar machen in einer für sie unsichtbaren Welt. Anerkennung und Vertrauen als Urbedingung für ein besseres Leben. Sozioökonomische Umstände und fehlende soziale Mobilität erfahren eine deutliche Kritik. Ein Rauswachsen aus problematischen Familienverhältnissen – kompliziert und schwierig.

Aus Überforderung und wegen einer weiteren Schwangerschaft beschließen die Eltern, Cáit zu nahen Verwandten zu bringen, zu Eibhlín und Seán. Dort der Kontrast. Wärme, Vertrauen und Mitgefühl. Neue Kleidung, Abwaschen der verschmutzten Haut, frisches Trinkwasser. Rührendes Kümmern von Eibhlín (liebevoll gespielt von Carrie Crowley, bekannt aus „Vikings“). Zunehmende Akzeptanz auch bei Seán (Andrew Bennett). Das typische Narrativ des verbohrten Mannes, der durch Kindlichkeit aufweicht. Kleine Gesten stehen stellvertretend für innere Öffnung. Wobei der Grund für die anfängliche Distanz später aufgeklärt wird. Trauerbewältigung als Möglichkeit zur Schöpfung neuer Energie.

Und schließlich die kleine Cáit. Vollkommen subjektiv erleben wir ihre Erfahrungen. Wie ein Magnet steuert sie durch die Welt: angezogen vom neuen Heim, abgestoßen von der alten Familie. Das Filmdebüt für die irische Kinderdarstellerin Catherine Clinch gedeiht bravourös, genauso wie die Entwicklung von Cáit. Nicht gestellt, werden wir Zeuge ihrer glaubwürdigen Genese hin zu einer immer selbstsichereren Person. Aufmerksame Blicke, Wettrennen in den Wäldern und wachsendes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten beim Aushelfen am Bauernhof.

Ähnlich wie in den Werken des Iren Martin McDonagh – „The Banshees of Inisherin“ sticht hier hervor - werden Grundgefühle, psychische Ängste und Hoffnungen, kurz: das, was uns Menschen leitet und bewegt, in all ihrer Einfachheit und Marginalität dargelegt. Komprimiert auf wenige Figuren und Ortschaften, ohne Zeitsprünge. Das pure Leben in der Gegenwart durch die Augen eines Kindes. Die Enge des kindlichen Geistes für Räume und Zeiten stehen im Gegensatz zur Weite der irischen Natur und zum sensiblen kindlichen Gespür in Bezug auf vertrauensvolle Beziehungen und tiefe Gefühle. Die ganze Welt im Kleinen, vortrefflich eingefangen durch die meist zentrierte Kamera, die neben weiten Landschaften alltägliche Kleinigkeiten aufnimmt und dynamisch wechselt zwischen Stand und Bewegung. Untermalt durch punktuelle Instrumentalmusik von Stephen Rennicks („Room“) gelingt eine zurückhaltend-zarte Reise.

„The Quiet Girl“ ist eine im Setting kleine und in der Botschaft große irische Perle. Bisweilen etwas klischeehaft, schafft das Werk eine hohe Authentizität durch den rein irischen Cast, die irische Sprache und Natur. Eine Erinnerung an die Bedeutung von Geborgenheit, Aufmerksamkeit und vertrauensvoller Wärme in der Familie. Eine Erinnerung an die Kindheit, an die höchst subjektive und einmalige Wahrnehmung eines Kindes. Eine Erinnerung daran, dass auch in vermeintlichen kleinen Stoffen intensive Themen behandelt werden können. Und daran, dass das Medium Film durch poetische Bildsprache wie geschaffen dafür ist.
 
 

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