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    Das Wunder der Wertschätzung

    Wie heisst es so schön? Durchs Reden kommen die Leute zusammen. Eigentlich gar nicht wahr. Sie mögen zwar miteinander interagieren, diese Leute, doch Nähe entsteht dadurch keine. Reden kann man viel, wenn der Tag lang ist. Man kann ihn auffüllen mit hohlen Phrasen und jeder Menge Smalltalk, die im Grunde zu nichts führt. Das wirklich Wichtige lässt sich zwischen den Wörtern verorten; es sind Gesten, Blicke und Berührungen. Aufmerksamkeiten und Signale, die das Gegenüber wissen lassen: es wird wertgeschätzt. Im Leben der jungen Cáit ist Wertschätzung etwas, dass sich ihre Familie nicht leisten kann – oder will. Cáits Eltern führen mehr schlecht als Recht einen Hof, hinten und vorne fehlt das Geld und das sechste Kind wird in Kürze das Licht der Welt erblicken. Es herrscht ein gehetzter, entnervter Dauerzustand, vor allem von Seiten der Mutter – und der Vater ertränkt seine Gefühle lieber im Alkohol. Um dem Ganzen ein bisschen den Druck zu nehmen, wird das neunjährige Mädchen zur Cousine an die irische Küste gebracht – diese lebt mit ihrem Mann in scheinbar harmonischer Abgeschiedenheit zwischen Sandstrand, Wald und Feld. Die Kühe geben Milch, die Quelle klares Wasser. Cáit eröffnen sich Welten, die sie zuvor nicht gekannt hat: Zuneigung, Liebenswürdigkeit und Aufmerksamkeit, zumindest von Seiten Eibhlíns, die ihrer entfernten Verwandten mit unbändiger Gastfreundschaft begegnet. Sie merkt, dass mit Cáit etwas nicht stimmt. Sie will ihr Bestes tun, um der Kleinen einen glücklichen Sommer zu bescheren.

    So steht die junge Catherine Clinch in ihrer ersten Filmrolle wie Alice im Wunderland vor dem Kaninchenbau, als sie aus dem Auto ihres Vaters steigt. Schmutzig und leicht verwahrlost, wortlos und verschreckt. Doch das, was ihr widerfährt, ist die Möglichkeit, Vertrauen zu entwickeln, Nähe anzunehmen und endlich gesehen zu werden. Als unsichtbares Mädchen, von kaum jemanden beachtet, scheint Cáits Persönlichkeit am Anfang des Films regelrecht zu verblassen. Und dann geschieht das Wunder. Das Wunder der Wertschätzung. Das Wunder, anderen einfach Gutes zu tun. Filmemacher Colm Bairéad, der mit The Quiet Girl nicht nur sein Spielfilmdebüt hingelegt, sondern auch bei den Oscars für Aufsehen gesorgt hat, gelingt es, sich eineinhalb Stunden lang und mit hypnotischer Wirkung auf das Wesentliche zu konzentrieren. Keine Floskeln, keine Phrasen, keine Worthülsen, nirgendwo auch nur der geringste Overflow. Seine Arbeit ist fokussiert, zurückhaltend und entschleunigt. Doch weder elegisch noch auf sinnierende Weise entrückt. The Quiet Girl steht mit beiden Beinen am Boden, doch stampft es nicht auf. Der Film zentriert sich in seiner Gegenwart, fängt die junge Cáit nicht auf beobachtende, geschweige denn voyeuristische Art ein, sondern lässt es zu, dass sich diese dem Auge der Kamera von selbst nähert. Es ist diese erfrischende Bereitschaft, wahrgenommen werden zu wollen. Und da ist sie. In ihrer ganzen Persönlichkeit, in ihrer ganzen Sehnsucht und ihrem Mut, Nähe zuzulassen. Spätestens wenn der von Andrew Bennett dargestellte Seán als Vaterfigur für den Sommer mit Cáit langsam, aber doch, eine für beide Seiten bereichernde Basis der Koexistenz findet, wird deutlich, worauf es im Leben wirklich ankommt.

    Und wenn dann doch gesprochen wird, dann erklingt schönstes Gälisch, von dem man kein Wort versteht, die Sprache aber wesentlich dazu beiträgt, den Film auch in seiner Zeit und seinem Ort zu verankern. Sprache ist hier Poesie, die einen ungeschmückten, aber nicht schmucklosen Film auf nuancierte Weise veredelt. Der Klang ist eine Sache, die Details, die Bairéad für wichtig erachtet – Cáits Schuhe, am Tisch ein Keks, die schillernde Oberfläche des Wassers – das visuelle Vokabular eines intimen, schnörkellosen Portraits einer Gemeinschaft auf Zeit, in der Geben und Nehmen im intuitiven Einklang geschieht. Es sind keine tragischen Ereignisse, wilden Begebenheiten und spannenden Wendungen, zu denen sich The Quiet Girl hinreißen lässt. Es ist die zum Durchatmen einladende, angenehm entreizte Tiefe, in die der Film vordringt, als würde man, um sich von Last und Kummer zu befreien, den Kopf mal tief ins kühle, stille Wasser eines kleinen Waldsees tauchen.


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    24.11.2023
    17:21 Uhr
  • Bewertung

    Im Kleinen das ganz Große

    Exklusiv für Uncut
    „An Cailín Ciúin“ (englisch: „The Quiet Girl“) ist das bemerkenswerte Debüt von Auteur Colm Bairéad. Basierend auf der Kurzgeschichte „Foster“ von Claire Keegan, schrieb und inszenierte der irische Filmemacher den ersten Film in irischer Sprache, der als bester internationaler Spielfilm für den Oscar nominiert wurde. Cáit heißt das titelgebende stille Mädchen, welches uns mitnimmt auf eine Reise in die Kindheit. Eine Reise von ihrer Einsamkeit zum erstarkten Aufblühen in einer neuen Familie. Bei Verwandten verbringt Cáit ihre Sommerferien und erkennt die Poesie der Geborgenheit.

    Mit sanftem Spiel und gemächlich-eindringlichem Tempo gelingt dem Porträt das Abstecken der Lebensumstände. Da ist zunächst die leibliche Familie. Leicht überzeichnet und dezent stereotypisiert, sticht der vulgäre, an Kindern desinteressierte Vater heraus. Ein Symbol für veraltete Männlichkeit, falschen Stolz und gesellschaftlich akzeptierte „Vaterschaft“ in traditionellem Gewand. Sogar Andeutungen von Missbrauch werden gewahr. Im Alltag der Großfamilie mit vier Kindern geht nicht nur Cáits Mutter unter, die Hauptfigur selbst auch. Isolation, Verachtung in der Schule und wenig Aufmerksamkeit prägen ihr Leben. Hilfe sucht sie im hohen Gras oder unter dem Bett. Verstecke, die sie unsichtbar machen in einer für sie unsichtbaren Welt. Anerkennung und Vertrauen als Urbedingung für ein besseres Leben. Sozioökonomische Umstände und fehlende soziale Mobilität erfahren eine deutliche Kritik. Ein Rauswachsen aus problematischen Familienverhältnissen – kompliziert und schwierig.

    Aus Überforderung und wegen einer weiteren Schwangerschaft beschließen die Eltern, Cáit zu nahen Verwandten zu bringen, zu Eibhlín und Seán. Dort der Kontrast. Wärme, Vertrauen und Mitgefühl. Neue Kleidung, Abwaschen der verschmutzten Haut, frisches Trinkwasser. Rührendes Kümmern von Eibhlín (liebevoll gespielt von Carrie Crowley, bekannt aus „Vikings“). Zunehmende Akzeptanz auch bei Seán (Andrew Bennett). Das typische Narrativ des verbohrten Mannes, der durch Kindlichkeit aufweicht. Kleine Gesten stehen stellvertretend für innere Öffnung. Wobei der Grund für die anfängliche Distanz später aufgeklärt wird. Trauerbewältigung als Möglichkeit zur Schöpfung neuer Energie.

    Und schließlich die kleine Cáit. Vollkommen subjektiv erleben wir ihre Erfahrungen. Wie ein Magnet steuert sie durch die Welt: angezogen vom neuen Heim, abgestoßen von der alten Familie. Das Filmdebüt für die irische Kinderdarstellerin Catherine Clinch gedeiht bravourös, genauso wie die Entwicklung von Cáit. Nicht gestellt, werden wir Zeuge ihrer glaubwürdigen Genese hin zu einer immer selbstsichereren Person. Aufmerksame Blicke, Wettrennen in den Wäldern und wachsendes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten beim Aushelfen am Bauernhof.

    Ähnlich wie in den Werken des Iren Martin McDonagh – „The Banshees of Inisherin“ sticht hier hervor - werden Grundgefühle, psychische Ängste und Hoffnungen, kurz: das, was uns Menschen leitet und bewegt, in all ihrer Einfachheit und Marginalität dargelegt. Komprimiert auf wenige Figuren und Ortschaften, ohne Zeitsprünge. Das pure Leben in der Gegenwart durch die Augen eines Kindes. Die Enge des kindlichen Geistes für Räume und Zeiten stehen im Gegensatz zur Weite der irischen Natur und zum sensiblen kindlichen Gespür in Bezug auf vertrauensvolle Beziehungen und tiefe Gefühle. Die ganze Welt im Kleinen, vortrefflich eingefangen durch die meist zentrierte Kamera, die neben weiten Landschaften alltägliche Kleinigkeiten aufnimmt und dynamisch wechselt zwischen Stand und Bewegung. Untermalt durch punktuelle Instrumentalmusik von Stephen Rennicks („Room“) gelingt eine zurückhaltend-zarte Reise.

    „The Quiet Girl“ ist eine im Setting kleine und in der Botschaft große irische Perle. Bisweilen etwas klischeehaft, schafft das Werk eine hohe Authentizität durch den rein irischen Cast, die irische Sprache und Natur. Eine Erinnerung an die Bedeutung von Geborgenheit, Aufmerksamkeit und vertrauensvoller Wärme in der Familie. Eine Erinnerung an die Kindheit, an die höchst subjektive und einmalige Wahrnehmung eines Kindes. Eine Erinnerung daran, dass auch in vermeintlichen kleinen Stoffen intensive Themen behandelt werden können. Und daran, dass das Medium Film durch poetische Bildsprache wie geschaffen dafür ist.
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    18.10.2023
    08:48 Uhr