Olfas Töchter

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Forumseintrag zu „Olfas Töchter“ von UR_000

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UR_000 (28.02.2024 20:24) Bewertung
Wenn Wölfe die Töchter fressen
Nein, „Olfas Töchter“ ist kein Märchen, sondern ein filmisches Porträt einer Mutter-Töchter-Beziehung von Kaouther Ben Hania. In Cannes als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, ist er 2024 auch im Rennen um einen Oscar in dieser Kategorie.

Filmische Familienaufstellung zwischen Fakt und Inszenierung
„Olfas Töchter“ ist eine Art Familiengeschichte oder -aufstellung, zeigt die Tunesierin Olfa und ihre vier Töchter. Gleich zu Beginn wird hervorgehoben, dass es sich um eine Inszenierung, einen Film handelt. Meta-Kommentare und Stimmübungen inklusive. Das wichtigste Element dieser Erinnerung an den künstlerischen Charakter ist die Vorstellung der Schauspieler und Schauspielerinnen, die die älteren Töchter Ghofrane und Rahma, teilweise die Mutter und verschiedene Männer aus dem Leben der Frauen verkörpern. Für Olfa gibt es eine Art Zweitbesetzung, wenn die Aufnahmen für sie mental zu belastend werden. Ghofrane und Rahma können nicht selbst auftreten, sie sind von „Wölfen gefressen worden“.

Spurensuche in der Familie
Was das heißt, also warum die älteren Töchter in der Familie fehlen, rollt die Regisseurin anhand von Erzählungen Olfas, die eigentlich Coachings für die Darsteller*innen sind, interview-ähnlichen Passagen mit der Mutter und den jüngeren Töchtern und dem Nachspielen von Schlüsselszenen auf.

Olfa lehrt ihre Töchter, stark zu sein. Gleichzeitig gibt sie strenge Regeln vor und teilt harte Strafen aus. Aber ihre älteren Töchter sind Teenager, die sich ihre Art der Rebellion suchen.

Auswirkungen einer Radikalisierung
„Olfas Töchter“ blickt auf Mutter-Tochter-Beziehungen, aber auch auf die Dynamik unter den Schwestern. Vor und nach der Radikalisierung von Ghofrane und Rahma, die plötzlich Hijab tragen und sich dem IS anschließen. Es ist ein intimer Blick. Oft werden Erlebnisse und Rituale bis ins kleinste Detail nachgespielt. Schonungslos manchmal, aber nie sensationslüstern.

Reflexion im Nachspielen
Die Betonung auf dem inszenierten Charakter ist ein kluger Schachzug. Alles ist gespielt und doch muss es so ähnlich abgelaufen sein. Olfa und ihre zwei jüngeren Töchter erinnern sich an wichtige Ereignisse und versuchen den Schauspieler*innen klarzumachen, was sie beim Durchleben gefühlt und getan haben. Und damit dem Publikum. Es ist ein Erinnern, ein Reflektieren und ein simuliertes Wieder-Erleben.

Durchaus spannendes, tiefgehendes Familienporträt
„Olfas Töchter“ ist ein interessantes und größtenteils spannendes Familienporträt. Manchmal ist der Film vielleicht ein bisschen zu verliebt in ungewöhnliche Rituale, was die Geschichte etwas verlangsamt.

Obwohl auch etwas Humor durchklingt, geht „Olfas Töchter“ tiefer ins Thema als etwa die österreichische Komödie „Womit haben wir das verdient“, weit weg von Scherzen über Faschingsverkleidung. Die persönliche (und trotzdem inszenierte) Reflexion gibt Einblicke in die sozio-kulturellen, aber auch individuellen Hintergründe einer Radikalisierung. Der Film verliert seine Protagonistinnen dabei nie aus den Augen, zeigt sie zutiefst menschlich, mit viel Empathie. Das Porträt ist nicht immer einfach zu konsumieren, aber lohnenswert.
 
 

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