The Creator

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Forumseintrag zu „The Creator“ von Andretoteles

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Andretoteles (27.09.2023 09:38) Bewertung
Von Menschen, Maschinen und Perspektivwechseln
Exklusiv für Uncut
„Die Minderung des Risikos für eine Auslöschung der Menschheit durch künstliche Intelligenz sollte neben anderen Risiken wie Pandemien und Nuklearkrieg eine globale Priorität haben.“ Trivial, ein banaler Spruch? Mitnichten! Über 100 weltbekannte KI-Forschende unterzeichneten den Satz und warnten sogleich. Tatsache ist: Nicht erst seit ChatGPT sind Künstliche Intelligenzen (KI) vermehrt im öffentlichen Diskurs vertreten. In der Science-Fiction-Literatur gibt es apokalyptische Geschichten über zerstörerische Maschinen seit über 300 Jahren, lange vor der Erfindung des Computers. Dem Medium Film und seiner Geschichte drückten Sci-Fi-Filme gar einflussreich ihren Stempel auf: „2001: A Space Odyssey“ und „Blade Runner“ gelten als Meisterwerke. „The Creator“ setzt diese Tradition fort, bricht aber mit üblichen Narrativen. Wer ist gut, wer ist böse? Der sehenswerte Film berührt und begeistert.

Vor uns wird die Welt im Jahr 2065 ausgebreitet. Seit Jahren tobt ein Krieg zwischen der mit der KI kooperierenden östlichen Welt und der westlichen Welt, die die KI nach einem Atombombenschlag bekämpft. Moderne Geopolitik in der Glaskugelprognose. Joshua, ein Ex-Spezialagent, erhält fünf Jahre nach dem Verschwinden seiner schwangeren Frau (Gemma Chan) von einer strengen US-Army-Teamleiterin (Allison Janney) den Auftrag, „Nirmata“ mitsamt neuartiger Waffe zu finden – Ursprung und Schöpferin der KI. John David Washington („Tenet“) als Joshua zeigt sich in formidabler Verfassung. Denzel Washingtons Sohn fällt nicht in das Klischee des gnadenlosen Soldaten, sondern transportiert Empathie von Beginn an. Trauer, Verwirrung und Mut sehen wir durch seine Augen. Zu seiner Überraschung (und schon bekannt im Trailer) stellt sich die Waffe als humanoides Kind namens Alphie heraus, das den Krieg für die KI-Seite gewinnen kann. Ein spannender Wettlauf rund um die Suche nach Joshuas Frau und der Wahrheit um Alphie beginnt. Gerade die teils humorvolle, aber moralisch schwierige Dynamik rund um Joshua und Alphie trägt den Film. Klassisches Dilemma: Einzelschicksal oder Rettung der Welt.

Dass Regisseur Gareth Edwards dem Genre gewachsen ist, zeigte schon „Rogue One: A Star Wars Story“. Einer der wenigen neuen Filme der Saga, die nicht von Kritik und Publikum zerpflückt wurden. In seinem neuen Streifen versammelt der bekennende Fan nostalgischer Sci-Fi-Filme bekannte Handlungselemente - traumatisierter Spezialagent auf der Suche nach verschwundener Frau, der durch die kindliche Unschuld seine Prinzipien überdenkt. Und schafft dennoch etwas Neues, ein Umdenken, einen Perspektivwechsel. Ein Werk, mit dem er sich in die vordere Riege der interessantesten, aktuellen Blockbuster-Regisseure einreiht.

Das präsentierte Soziotop im Jahr 2065 spielt sich vorwiegend im südostasiatischen Raum ab. Wirkt trotz klarer Sci-Fi-Linie nicht hyperartifiziell, sondern authentisch und dreckig. Teils urban, teils landschaftlich. Teils maschinell, teils organisch, tierisch, menschlich. Greig Fraser („Dune“) hinter der Kamera kontrastiert Technologien der Zukunft mit atemberaubenden, weiten Natur-Bildern und einer auffallenden Grobkörnigkeit, die an Retro-Futurismus erinnert. Landschaften an Original-Drehorten in Thailand und Vietnam treffen auf dezente visuelle Effekte. Im Vordergrund Reisfelder, im Hintergrund türmen sich gewaltige Gebäude. Sets und Settings überzeugen durch Echtheit. Szenenbild und Produktionsdesign dokumentieren auf eindrucksvolle Weise die Koexistenz auf der Erde: Menschen brauchen Tiere und Maschinen zum Überleben. Und Menschen wiederum sind für Maschinen die Existenzbedingung. Ein Kreislauf.

Zwischendurch saugt der Film durch großartige Action-Szenen und wechselhaften Rhythmus in einen Bann. Brachiale Explosionen brechen mit ruhigen, intensiven Momenten, die sich insbesondere in Rückblenden, in Joshuas Erinnerungen an seine Frau zeigen. Hans Zimmers Score prägt gewohnt gewaltig-gefühlvoll den musikalischen Hintergrund. Doch Edwards inszeniert nicht nur, er schrieb auch am Drehbuch mit und entfaltet einen Film mit vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten. Genuin philosophische Themen werden verhandelt. Was ist der Mensch? Was hebt ihn von anderen Spezies ab? Häufige Aufnahmen von Tieren unterstreichen die Koexistenz der Menschen mit anderen Gattungen. Worin unterscheidet er sich von Maschinen? Ist es das Aussehen? In „The Creator“ entwickelt die KI Androiden mit menschlichen Gesichtern, die Äußerlichkeit fällt also Kriterium raus. Womöglich Gefühle? Diese seien in der KI nur programmiert, meint Joshua. Doch am Ende weint mit kindlichem Blick auch Android Alphie, der dennoch von sich sagt „I am not a person“. Was ist eine Person? Selbst Joshua lebt mit einer Armprothese. Menschliches und Nicht-Menschliches gehen Hand in Hand, wo liegt die Grenze? Wer hat uns die Gefühle einprogrammiert? Sogleich lesen wir den Film religiös (Edwards selbst: „ancient mythology with a far-off technological future“). Alphie als Messias, der Erlösung bringt. Die Suche nach Nirmata als Kreator, als Schöpfungskraft mit gottgleichen Eigenschaften. Die ewige Suche nach dem Anfang. Und dem Ende. Muss das Ende einer Spezies das Überleben einer anderen bedeuten? Letztlich ändert sich unser Blick. Wir nehmen eine neue Perspektive ein. Während einer spektakulären Schlacht orientieren wir uns neu, auf welcher Seite steht Joshua? Wer steht wirklich in Verantwortung für Krieg, für die Auslöschung der Menschheit? Wer kämpft gegen wen?

Auch im epischen Spektakel „The Creator“ ist dem Kino gewiss: KI wird irgendwann die Macht zur Auslöschung der Menschheit haben. Das düster-dystopische Action-Drama aber hält den Menschen den Spiegel vor. Bei einigen Schwächen in Charakterzeichnung und Originalität, doch mit intellektuellem Anspruch, fantastischen Sets, bombastischen Bildern, berührendem Kern und cineastischer Ambition wird auf die eigentliche Ursache unseres Untergangs gedeutet. Sind wir es nicht selbst, die unser Ende verantworten? Vollständige Antworten gibt es nicht. „The Creator“, einer der unerwartet besten Filme des Kinojahres, positioniert sich elegant und anspruchsvoll trotz Nostalgie-Blockbuster-Stil mit erstaunlicher, formeller Klarheit. Dezenter Humor lockert den Tiefgang, der den emotionalen Kern nicht vergisst. Den zutiefst menschlichen Wert von Beziehung, Bindung und Familie.
 
 

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