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Crossing Europe 2010

Crossing Europe 2010

„nullachtfünfzehn“ berichtet von einem Tag in Linz.
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von (nullachtfünfzehn)
In Österreich ist das Crossing Europe Filmfestival, das heuer bereits zum siebten Mal in Linz stattgefunden hat, bei weitem nicht so bekannt wie die Diagonale oder die Viennale. Warum, ist mir mehr oder weniger ein Rätsel, hatte das Festival heuer doch beachtenswerte 17.000 Besucher.

Leider war es mir nur möglich, am Freitag dabei zu sein und in das Geschehen einzutauchen. Anfangs war ich mir nicht ganz sicher, was mich erwarten würde. Mehrere Filme hintereinander anzusehen mit nur kurzen Pausen dazwischen und alle noch objektiv zu beurteilen – geht das? Überraschenderweise: ja.

Begonnen hat der Kinomarathontag mit „This Moment Is Not the Same“, einem Dokumentarfilm der jungen deutschen Filmemacherin Marion Neumann. „Dieser Film war meine Abschlussarbeit an der Hochschule für Fernsehen und Film München“, erklärte die gebürtige Bayerin. Das Publikum tauschte erwartungsvolle und begeisterte Blicke miteinander aus. Überzeugen konnte die Doku aber nicht so recht. Bereits nach einer halben Stunde (Gesamtdauer: 101 Minuten) hat die Hälfte des zuvor enthusiastischen Publikums den Kinosaal verlassen. Viele Standaufnahmen, unnütz in die Länge gezogene Szenen und dazu noch ein nur sperrig erklärter Handlungsstrang konnten nicht begeistern.
Die Idee, ein Haus in der Schweiz für Künstler einzurichten, die zusammen leben und das machen können, worauf auch immer sie Lust haben, kann sich sehen lassen. Auch die (teils SEHR seltsamen) Ideen und Aktionen der Künstler konnten weitgehend begeistern. Wenn jedoch eine Dokumentation darüber genau das Gegenteil vermittelt ist da wohl etwas schief gegangen. Wirklich schade!

Hinaus aus dem City-Kino, kurzer Sprint, rein ins Moviemento. „The Unloved“ steht am Programm. Das Regiedebut der bekannten englischen Schauspielerin Samantha Morton fesselt den Zuschauer von der ersten Sekunde an. Warum liegt dieses Mädchen regungslos am Boden? Warum wird sie, ohne zu schreien, von ihrem Vater mit dessen Gürtel geschlagen? Fragen über Fragen, die nicht erklärbar scheinen. Als die elfjährige Lucy in ein Jugendheim kommt und sich mit ihrer sechzehnjährigen Zimmergenossin Lauren, die sich als Freizeit-Prostituierte ihr Geld für Drogen verdient. Folglich stellt sich Lucy ihre Zukunft noch dunkler vor als es die Gegenwart ohnehin schon ist. Unklar ist für sie (und auch für den Zuschauer) warum sie nicht bei ihrer Mutter leben kann. Nach mehreren Versuchen, dem Heim zu entfliehen, trifft sie schließlich auf ihre Mutter. Ein Seufzen geht durchs Publikum – einige haben mit Tränen zu kämpfen. Eine Frage werden aufgeklärt, wieder neue tun sich auf. Schlussendlich bleibt ein hoffnungsloses Mädchen zurück, das mit gleichgültigem Blick mehrere Minuten dem Zuschauer direkt ins Gesicht starrt. Gänsehaut pur. Ein wirklich gelungener Film über die Hoffnungslosigkeit.

Den letzten Film muss ich noch immer verarbeiten, als ich mich bereits zum nächsten aufmache: „The Blacks“. Nachdem ich der kroatischen Sprache nicht mächtig bin war ich vorerst etwas skeptisch – wurde der Film schließlich im Original gezeigt, mit englischen Untertiteln, die mit einer hingekritzelten Schrift am unteren Leinwandrand hin- und herwackelten. Doch die Herausforderung wurde gemeistert und das schauspielerisch eindrucksvolle und inszenatorisch atemberaubende Werk konnte in vollen Zügen genossen werden.
Nachdem die Truppe in einen Hinterhalt geraten ist, warten sie darauf, ihre Freunde rächen zu können – nicht gebremst wird ihre Wut vom ausgerufenen Waffenstillstand. Jegliche Erwartungen seitens der Kinobesucher werden zunichte gemacht beziehungsweise um 180 Grad gedreht. Grandioser Film aus Kroatien, der niemanden eindruckslos zurückließ und zurecht den „Crossing Europe Award European Competition“ gewann. Gratulation!

Nach drei komplett verschiedenen Filmen hatten meine Freunde und ich eine Einladung zur Crossing Europe-Donauschifffahrt. Dort bot sich uns die Gelegenheit, mit der Intendantin des Festivals – Christine Dollhofer – ein bisschen zu plaudern. Der Film „My Son, My Son, What Have Ye Done“ von Werner Herzog kam als Gesprächsthema auf. „Ist halt ein typischer Herzog-Film. Verstörend, verwirrend, begeistert aber in voller Länge. Geht’s euch den unbedingt anschauen“, so die Intendantin.

Glücklicherweise hatten wir die Tickets bereits vorher besorgt. Um 22:45 Uhr startete als letzter Film des Tages „My Son, My Son, What Have Ye Done“ im völlig überfüllten Saal 1 des Moviemento. Der von David Lynch produzierte Film lässt mich von der ersten Szene an aufrecht in meinem Sessel sitzen – keine Zeit für Entspannung. Die Ästhetik der Schauplätze im Zusammenspiel mit den Schauspielern und diese Intelligenten und perfekt durchdachten Dialoge lassen mich dahinschmelzen und sabbern, wie andere es tun, wenn sie an eine riesige Tafel Schokolade oder an einen wohlgeformten Frauenkörper in Unterwäsche denken. Die Grenzen zwischen Komödie und endlos tragischem Horror scheinen hier perfekt ineinander zu verschmelzen.
Im Garten stehen Plastikflamingos, die sich aufgedruckt auf den Gläsern am Esstisch wiederfinden und eigentlich omnipräsent sind. Ein junger Mann bringt seine Mutter mit einem Samurai-Schwert um, wie er es auf der Bühne in einem Schauspiel hätte machen sollen.

Die Inszenierung des Ganzen erinnert ein wenig an CSI oder ähnliche Serien. Die Handlung wird in immer häufiger werdenden Rückblenden geschildert. Weiters gibt es mehrere „Standbilder“. Nachdem eine Szene beendet scheint, bleiben die Schauspieler im „Freeze“ stehen, die Kamera filmt sie jedoch für etwa eine halbe Minute. Solche Ideen sind so genial, dass ich kein passendes Wort dafür finde.
Die perfekte Harmonie zwischen Schauspielern, Inszenierung und Handlung präsentieren dem Zuschauer ein Werk enormer Aussagekraft, das einem noch Tage nachdem man den Film gesehen hat, mit offenem Mund durch die Gegend laufen lässt.

Alles in allem war das Crossing Europe für mich tadellos. Tolle Filme, sympathische Intendantin, wunderschöne Zeit in Linz. Meine Vorfreude auf nächstes Jahr ist groß!
Der Autor
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nullachtfünfzehn

Forum

  • Interessant

    Hört sich toll an. Wollte schon immer mal hin und wir sind vielleicht nächstes Jahr dann dabei. Überraschend ist für mich, dass "Crnci" gewonnen hat - der hat mir beim letztjährigen Sarajevo Film Festival ja nicht so gefallen, wie nachzulesen ist.
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    30.04.2010, 18:55 Uhr