Filmkritik zu Emilia Perez

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  • Bewertung

    Die unkonventionellste Geschichte dieses Jahres

    Exklusiv für Uncut aus Cannes 2024
    Ohne Vorwissen in einen Film hineingehen, kann die größten Überraschungen bereithalten. Auch auf den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes gab es zwei Beispiele, die davon sehr profitiert haben. Auf der einen Seite steht der substanzvolle Body-Horror „The Substance“, auf der anderen das Drama „Emilia Pérez“, welches schon allein einen Preis für die unkonventionellste Filmgeschichte des Jahres verdient.

    Darum geht's: Rita Moro Castro (Zoe Saldana) ist Anwältin und unterliegt einem System purer Korruption. Um nicht selbst ins Visier zu geraten, befolgt sie die vorgegebenen Anweisungen und so bleibt Klient für Klient (mal mehr, mal weniger kriminell) vor dem Gefängnis verschont. Als der Drogenbaron Juan „Manitas“ Del Monte (Karla Sofía Gascón) Zeuge ihrer Spitzfindigkeit wird, heuert er sie an, um eine neue Identität zu erlangen. Es handelt sich um Ritas größte Entscheidung ihres Lebens, doch hat sie überhaupt eine Wahl?

    Inkompatibles Kino?

    Die Gesetze im Kino zeigen sich an manchen Stellen ganz klar, die meiste Zeit bleiben sie jedoch eine Black Box, die es zu entschlüsseln gilt. Grundlegend kann man dabei fragen: Was funktioniert und was nicht? Nach diesem Ansatz (es ist nur einer von vielen filmwissenschaftlichen Zugängen) besteht die Kunst des Regisseurs darin, die unterschiedlichen Zutaten eines Films harmonisch zusammenzubringen. „Emilia Pérez“, von dem mir bis zur Cannes-Premiere vor wenigen Tagen kein einziges Wort und Bild zu Augen kam, hat mich vor diesem Hintergrund schwer beeindruckt. Die Zutaten in diesem Beispiel sehen auf den ersten Blick nämlich extrem inkompatibel aus. Das verwundert nicht, wenn man die Synopsis auf einen Satz herunterbricht: In dem Musical-Drama geht es um einen skrupellosen Drogenbaron, der sich einer Geschlechtsoperation unterzieht und anschließend als Frau ein neues Leben beginnt. So etwas gab es noch nicht einmal ansatzweise, schon allein in Hinblick auf die Kombination von Thriller, Drama, Musical und queeren Kino. Auch hier muss man also die Frage der Stunde stellen.

    Kann so ein Film überhaupt funktionieren? Wenn ich den Film nicht mit eigenen Augen selbst gesehen hätte, würde ich es vermutlich nicht glauben. Zu ausgefallen erscheint das Sujet, zu inkompatibel die einzelnen Komponenten, die Regisseur Jacques Audiard unter einen Hut bringen muss. Und sind wir mal ehrlich: Ist es nicht schon schwer genug, einen gelungenen Film nur über Gewalt, Vergebung und einen Neuanfang zu machen? Audiard, der schon mit „Der Geschmack von Rost und Knochen“ bewies, dass er ein Händchen für ausgefallene Geschichten besitzt, nahm sich dagegen einer echten Herausforderung an. Themen wie Selbstfindung, Geschlechtsidentität (inklusive der Frage, ob eine Geschlechtstransformation tatsächlich alle Probleme löst) und Vertrauen werden hinzugefügt, abgerundet von schrillen Musical-Einlagen. Es kann daher schon etwas dauern, bis man mit „Emilia Pérez“ warm wird.

    Wie Audiard all diese Komponenten grandios zusammenbringt, gleicht ebenfalls einer Black Box: Es scheint alles wenig kompatibel und doch funktioniert es. Nur schwer knackbar, präsentiert sich „Emilia Pérez“ als mutige Produktion und erweckt schon fast den Eindruck, dass es das Gangster-Transgender-Musical-Thriller-Drama als eigenständiges Genre schon lange gibt und nun perfektioniert wurde. Dies liegt auch an den Schauspielerinnen, die in der Lage sind, all diese Einflüsse in sich zu vereinen und allem auch gleichermaßen viel Raum zu geben. Allein der Umstand, dass man für dieses opulente Werk die passende Stimmung mitbringen muss, lässt sich als Schwachstelle ansehen. Insgesamt hat die Cannes-Jury jedoch gute Entscheidungen getroffen, indem sie den Preis für die besten Schauspielerinnen als auch den Jury-Preis an „Emilia Pérez“ vergeben haben.
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    (Michael Gasch)
    25.05.2024
    20:48 Uhr