Filmkritik zu A Family

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  • Bewertung

    Eine unbequeme Wahrheit

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    In Literaturkreisen ist Christine Angot keine Unbekannte. Für ihre sehr persönlichen, oft autobiografischen Werke hat sich die französische Schriftstellerin innerhalb der Szene als respektabler Name etablieren können. Nicht selten sind ihre Bücher ein Vehikel zur Aufarbeitung persönlicher Schockerlebnisse: Aufsehen erregte insbesondere ihr Roman „Inzest“, in dem sie das inzestuöse Verhältnis zum eigenen Vater schilderte, der sie mehrfach vergewaltigt haben soll.

    Mit ihrem Regiedebüt „Une Famille“ unternimmt die Autorin einmal mehr eine Zeitreise zurück in ihre erschütternde Vergangenheit. Vor allem aber ist der Dokumentarfilm für sie die Möglichkeit, Familienmitglieder und (frühere) Wegbegleiter*innen direkt mit ihrem Trauma zu konfrontieren. Menschen, deren Pflicht es gewesen wäre, sie vor den Schandtaten zu schützen, sich ohne wenn und aber auf die Seite der Gerechtigkeit zu stellen. Dass viele sich von Christine distanziert, die Vorfälle lange negiert und belächelt haben, macht der heute 64-Jährigen weiterhin schwer zu schaffen. Für ihr äußerst intimes Doku-Porträt hat sie sich daher zurück in die Stadt begeben, in welcher der sexuelle Missbrauch durch den eigenen Papa einst seinen Ursprung fand: Straßburg. Ohne Voranmeldung klopft sie an die Haustüren ehemaliger Vertrauter, die mehr tun hätten können, um das Ausmaß des Leids zu verringern. Damals mehr wussten, als ihnen lieb war zuzugeben. Diese unverblümte, fast schon Guerilla-hafte Befragungsmethode lässt Emotionen ungefiltert hochkochen. Und verleiht den jeweiligen Konversationen ein angenehmes Element von fehlender Vorbereitung und Spontanität. Gestelzt erscheint in diesem Setting gar nichts, erhitzte Gemüter führen manchmal zu den ehrlichsten Gesprächen. Aus unangenehmen Situationen kann sich hier niemand so leicht herauswinden. Die konfrontativen Familienmeetings werden persönlichen Aufnahmen der 1990er gegenübergestellt, die Christine Angot als junge Mutter zeigen. Eine gebeutelte Frau, der in der dunkelsten Stunde kaum jemand zur Seite stand.

    „Une Famille“ ist ein bedrückend ehrlicher Film über die Verdrängung und Aufarbeitung interfamiliärer Tragödien. Über die psychischen Nachwehen der Täter-Opfer-Umkehr. Vergeben kann man erst, sobald nicht mehr vergessen wird.
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    (Christian Pogatetz)
    19.02.2024
    00:08 Uhr

A Family

Frankreich 2024
Regie: Christine Angot