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    Die ewige Frage nach der Moral auf Planet Erde

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    Viele schätzen das französische Kino, weil es den unverblümten Mut besitzt, Grenzen zu überschreiten – sei es in der expliziten Gewaltdarstellung oder den höchst ambivalenten Charakteren. Jérémy Clapin, der bislang vor allem Animationsfilme produzierte, der bekannteste darunter „I Lost My Body“, versucht sich nun mit einem Film über außerirdischen Kontakt an Ambivalenzen und einem der ältesten philosophischen Experimente.

    Der Titel „Meanwhile on Earth“ (im Original „Pendant ce temps sur Terre“) verrät bereits: Die Handlung spielt größtenteils auf der Erde. Vor drei Jahren ist der älteste Sohn einer französischen Familie, der als Astronaut arbeitete, auf einer Weltraummission verschollen gegangen. Alle Familienmitglieder leiden weiterhin unter dem Unglück, aber seine Schwester Elsa hält am Glaube fest, er verweile irgendwo zwischen den Sternen. Eines Nachts, als sie physikalisch abnorme Phänomen entdeckt, nehmen Außerirdische Kontakt zu ihr auf und haben einen Deal vorzuschlagen: Sie muss fünf Menschen in den Wald bringen, die dort sterben und deren Leibe als neue Körperhüllen für die Aliens herhalten. Im Gegenzug befreien die mysteriösen Außerirdischen ihren Bruder, den sie damals entführt hatten. Wie weit wird Elsa gehen, um ihren Verlust zu kompensieren?

    Eigentlich handelt es sich beim Konzept um eine ganz interessante Prämisse, die Raum dazu lässt oder gar benötigt, sich mit philosophischen und gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Mehrere Genres werden wie bei einem erfrischenden Smoothie zusammengemixt, so vermengen sich Science-Fiction, Psychothriller, Body-Horror und Animation. Und in den Aspekten der jeweiligen Genres stecken die eigentlichen Stärken des Films. Die Idee, wie man die Aliens darstellt (an der Stelle nehme ich lieber nichts vorweg) und sie in die menschliche Welt integriert, erscheint doch als äußerst spannend. So ist deren bedrohliche Präsenz allgegenwärtig. Und in diesem Zusammenhang funktioniert auch der Body-Horror äußerst effektiv. Eine Szene lädt sich stark mit den gewünschten Affekten des Ekels auf – gerade Menschen, deren Ohren empfindlich sind, sollen hiermit vorgewarnt sein. Und wenn es um die immer wieder auftretenden Animationssequenzen geht, merkt man Regisseur Clapin an, dass seine Wurzeln im Zeichentrick verankert sind. In Schwarzweiß-Ästhetik sehen die Animationen nicht nur gut aus, sondern sind auch mit der Hauptfigur Elsa als Comiczeichner narrativ verbunden und dienen der Darstellung ihrer Innenwelt, Gedanken und Gefühle.

    Eine innerliche Veranschaulichung der Protagonistin ist auch bitter nötig, wenn man in Anbetracht zieht, in welche Gefilde die Figur der Elsa sich begeben muss. Im Kern widmet sich „Meanwhile on Earth“ dem Trolley-Problem, einem der bekanntesten philosophischen Gedankenexperimente in einer Dilemma-Situation. Würde man aktiv werden und die Weiche umlegen, wenn ein nicht zu stoppender Zug droht, über eine persönlich nahestehende Person zu rollen? Und stattdessen überrollt er eine fremde Person? Oder greift man nicht ein und findet sich damit ab? Der Film verarbeitet das Konzept als Alien-Prämisse. Die Frage nach Moral und Ethik setzt voraus, dass Elsa ambivalent geschrieben ist – denn immerhin sind die Fragen des Trolley-Problems für niemanden einfach. Wir müssen ihr abkaufen, dass sie über das Angebot nachdenkt, dass sie damit hadert, dass sie ihre Entscheidung in irgendeiner Form abwägt. Leider scheitert „Meanwhile on Earth“ daran. Elsa akzeptiert ihre Untaten viel zu schnell als nötiges Mittel und zweifelt nie so wirklich. Das macht sie unnahbar. Dadurch bleibt die philosophische Ausnahmesituation am Gefühl der Oberflächlichkeit hängen.
    Einmal mitten im Film stellt sie sich die Frage, welche Leben sie töten solle. Aber selbst hier wird die Hierarchisierung von Leben innerhalb unserer Gesellschaft (Wer leistet am meisten? Auf wen kann man verzichten?) eher plakativ dargestellt. Eben weil die Fragen so morbide und grenzwertig sind, sollten sie ausgehandelt werden, aber der Film akzeptiert sie einfach.

    Wenn es um die Außerirdischen geht, dann versucht sich „Meanwhile on Earth“ an Mystery und will deren Existenz möglichst geheim halten. Aber wie auch die ambivalente Figuren bewegt sich der Hang zum Mysterium auf einer schmalen Gradwanderung. Gerade die Verfahren und Handlungen der Außerirdischen wirken äußerst zufällig ausgewählt, sodass man mehr Informationen benötigt, um die umständliche Vorgehensweise nachvollziehen können. Aber diese Details bietet der Film nicht. Und so wirkt er teilweise leider unfreiwillig komisch statt bedrohlich.

    Auch bei der Inszenierung merkt man eine gewisse Unreife an. Dem harten Thema, welche Leben mehr wert sind, werden inszenatorische Kniffe nicht gerecht. So gibt es in einer Szene irgendwo im Wald eine Kettensäge, die nicht nur für Baumstämme eingesetzt wird. Was wie eine Referenz an „Evil Dead“ wirkt und dementsprechend auch eigentlich gewaltvoll erscheint, wird gemindert und verharmlost, indem der Film kurz vor dem übertriebenen Akt der Brutalität wegschneidet. Warum dürfen wir als Publikum nicht partizipieren? Warum dürfen wir uns nicht unangenehm und der Moral ausgesetzt fühlen?

    Was bleibt? „Meanwhile on Earth“ ist ein Film mit interessantem Konzept und einem wilden Genremix, aber sein Potential kann und will er nie so recht ausreizen. Vielmehr verliert er seine eigene Glaubwürdigkeit und trotz ein paar Lichtblicken werden die positiven Aspekte überschattet. Wie wenn sich ein Mond vor die Sonne schiebt, und die Erde verdunkelt.
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    (Tobit Rohner)
    25.02.2024
    23:11 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

    Betreibt den Podcast @Filmjoker

    Aktiv auf Letterboxd @Snowbit