Filmkritik zu Crossing

Bilder: Polyfilm Fotos: Polyfilm
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    Auf der Suche nach Wiedergutmachung in Istanbul, der Stadt der Überquerung

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    Auftakt der diesjährigen Panorama-Schiene auf der Berlinale machte bereits ein aufregender, politischer sowie diskussionswürdiger Film: „Crossing“ vom schwedisch-georgischen Regisseur Levan Akin. Und es ist eine wagemutige Entscheidung mit einem Highlight wie diesem zu starten – wie sollen die nachfolgenden Filme das noch toppen?

    Aber zuallererst worum geht es in „Crossing“? Wie der Titel schon nahelegt: Ums Überkreuzen. Die georgische Geschichtslehrerin Lia, mittlerweile in Pension, will ihre transgeschlechtliche Nichte Thekla auffinden, die seit gewisser Zeit als verschollen gilt. Hinweisen führen sie dazu, die Staatsgrenze zur Türkei zu überkreuzen, denn in Istanbul soll die Nichte wohnen. Auf ihrer Reise baut Lia mit verschiedenen Persönlichkeiten Kontakt auf. Etwa den georgischen Jungspund Achi, welcher von den Fittichen seines großen Bruders fliehen möchte, der frischen Anwältin Evrim, die für die Rechte der queeren Trans-Community einsteht, und zwei auf der Straße lebende Waisenkinder.

    Damit steht „Crossing“ genretechnisch im Dienste des Road-Trip-Movies, aber auch Anleihen eines unüblichen Buddy-Duos, verloren in der Großstadt oder einem multiperspektivischem Sozialdrama sind anzutreffen. Vor allem aber widmet sich der Film seinen Figuren, während der Plot selbst mehr als Motivation dazu dient, dass die Schicksale der Handlungsstränge miteinander verwoben werden. Alle zentralen Charaktere sind erstklassig geschrieben und auch schauspielerisch dargestellt. Zwar werden ihre Handlungen nicht übelst psychologisiert, aber der Film charakterisiert sie als nahbare, emotional aufbrausende und imperfekte Wesen. Die Hauptfigur Tante Lia erhält zum Beispiel keine plakative Hintergrundgeschichte. Sie erscheint meist in Schwarz gehüllt eher wie eine symbolische Figur; die Heimbringerin, die die verlorenen Schafe zurückbringt. Und doch ist sie als strikte Autoritätsperson auf Hilfe angewiesen, wenn sie in ein Land fährt, dessen Sprache sie nicht versteht. Hervorragend verkörpert wird sie übrigens von Mzia Arabuli, die schon mit kleinen Gesten viel aussagt.

    Bereits der frühere, vielgelobte Film des Regisseurs Levan Akin „And Then We Danced“ verband queere Lebensweisen mit georgischer Tradition. „Crossing“ porträtiert nun die Trans-Gemeinschaft mitten in Istanbul. Hier schafft es der Film, dem Trope des Queer Sufferings aus dem Wege zu gehen (bedeutet, dass sich einzig auf das Leiden von queer-lebenden Personen fokussiert wird), wobei die Darstellungen gleichzeitig auch nicht verschönert werden. Generell widmet sich „Crossing“ den Lebensformen der unteren Milieus in Istanbul, ohne diese auszuschlachten oder von oben herab zu blicken. Symbolisch für jene Ambivalenz zeigt der Film oftmals auch Katzen, die typisch für Istanbul haufenweise als Streuner umherstreifen – ein schöner und trauriger Anblick zugleich.

    Und Levan Akins Inszenierung ist sich den filigranen Zwischentönen seines Filmes bewusst. Bereits die Prämisse selbst ist geprägt von Hoffnungen, Erwartungen und der Suche nach Wiedergutmachung in einer deprimierenden Situation. „Crossing“ spielt mit den Hoffnungen des Publikums und dem Glaube an ein Happy End. Fies legt der Film auch falsche Fährten parat, suggeriert in der Inszenierung Sachen, die narrativ unklar gehalten werden. Und so kommt dann eben auch die niederschmetternde Realität auf einen zugerollt, die ihrer Konsequenz nachgeht. So ist die Vergangenheit gesetzt und unveränderbar.

    Die Wahl des Titels „Crossing“ erscheint dabei simpel wie genial, so beschreibt er mehrere der Handlungsstränge auf präzise Weise. Es werden relativ früh schon Staatsgrenzen überquert und Istanbul selbst ist durchzogen von einer kontinentalen Grenze. Mit den Trans-Personen werden die strikten Geschlechternormen durchkreuzt. Selbst Sprachbarrieren werden mittels der universal verständlichen Körpersprache übergangen. Es stellt sich die Frage, ob die Nichte die Schwelle des Lebens bereits übertreten hat. Und die Grenzen von emotionalen Bindungen mittels Schweigen und Ablehnung hätten durchbrochen werden sollen. Dennoch übertreten die Figuren die Grenzen von Vorurteilen und Abneigungen untereinander.

    Und in dem Sinne formuliert „Crossing“ sein zutiefst humanistisches Anliegen und betont ein solidarisches Netz von Mensch zu Mensch, an dem man sich selbst ein Beispiel nehmen kann. Gespitzt mit souveränem Witz und Charme warten vor allem die komplex gezeichneten Figuren auf, die sich sicherlich im Gedächtnis verankern werden. Levan Akin gelingt mit „Crossing“ eine Gradwanderung zwischen Trostlosigkeit, Hoffnung, Melancholie, Vertrauen und jeder Menge Menschlichkeit.
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    (Tobit Rohner)
    18.02.2024
    11:22 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

    Betreibt den Podcast @Filmjoker

    Aktiv auf Letterboxd @Snowbit

Crossing

F/S/DK/ Tür/GE 2023
Regie: Levan Akin