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    The Incredible Bulk

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    Verschwitzte, muskulöse Oberarme, durchtrennte Gliedmaßen, jede Menge Sex und Erotik: Kino der Körperlichkeiten wurde lange nicht mehr so großgeschrieben, wie es Rose Glass in ihrer zweiten Regiearbeit tut. Mit dem Psychodrama „Saint Maud“ versündigte sich die gebürtige Britin vor ein paar Jahren auf brillant-blasphemische Weise – unter Genre-Kennern fand das aufregende Debüt viel Beachtung. Dass ihr Erstlingsfilm alles andere als ein Blendwerk gewesen sein dürfte, wird in „Love, Lies, Bleeding“ unmissverständlich klar gemacht. Vom psychologischen Horror wechselt sie mit schwereloser Leichtigkeit zum Crime-Thriller, für den es die Filmemacherin von ihrer britischen Heimat in den Südwesten der USA verschlagen hat. Ins verstaubte, vom vorstädtischen Grind durchwucherte New Mexico der 1980er. Wobei: unter der schmutzigen Oberfläche verbergen sich nicht ausschließlich menschliche Abgründe.

    Liebe unter Fitnessjunkies

    Vordergründig erzählt Rose Glass eine Geschichte von queerer Liebe – die Romanze eines ungleichen Gespanns, das gemeinsam zur unschlagbaren Einheit verschmilzt. Wortwörtlich. Eigentlich hat Lou (Kristen Stewart: fantastisch) ihren Job als Fitnessstudio-Managerin schon lange satt. Tagein, tagaus muss sie ihren protzigen Klienten den Dreck hinterherräumen. Dann folgt der schicksalsträchtige Tag, an dem aus heiterem Himmel Jackie (Katy O’Brien: eine große Entdeckung) in ihrem Studio eincheckt. Die Bodybuilderin trainiert für einen anstehenden Contest, Lou findet am draufgängerischen, unberechenbaren Gemüt der Haudrauf-Lady sofort Gefallen. Das Gefühl scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen: zwischen den beiden entsteht eine enge Bindung, bis zum ersten körperlichen Kontakt dauert es nicht lange. Die eine ruhig und unterwürfig, die andere laut und aufmüpfig – Gegenpole ziehen sich an. Es würde ja alles so leicht sein, wäre da nur nicht Lous dubiose Verbrecherfamilie, die als Leiter einer Schießfarm den örtlichen Waffenhandel in der Hand hat. Feinde werden mir nichts, nichts dir nichts in die Schlucht hinabgestoßen. Weniger wäre Lou lieber, als endlich den kontrollsüchtigen Klauen ihres Vaters (Ed Harris: mit wilder Halbglatzenmähne) zu entkommen. Dann wird sie aber auf einmal in ein Mordkomplott mit reingezogen, für das sich ausgerechnet Katy verantwortlich zeichnet. Eine impulsive Handlung folgt der nächsten.

    Aus Alt mach Neu

    Zwar offiziell als Crime-Thriller definiert, kann man dieses Wunderwerk nicht leicht in eine Genre-Schublade stecken. Aus ihren Vorbildern macht Rose Glass keinen Hehl: ein Touch von Cronenberg’schen Tabubrüchen, ein genüsslicher Camp-Faktor im Stile eines John Waters, rebellische Romantik und Außenseiter-Coolness wie bei „Thelma & Louise“. Doch ist es ihr gelungen, die vertrauten Versatzstücke zu einem ganz eigenen, ungestümen Etwas zusammenzubasteln. Mit sonnendurchfluteten Bildern erschafft sich der Film eine gesetzlose Welt, die komplett ohne Filter auskommt. Durchgeknallte Ideen gibt es hier en masse: die Liebe wird zur übersinnlichen Macht, von der auch die Armschlagkraft nährt, die einen buchstäblich und metaphorisch über den Wolken schweben lässt. Das Setting ist aber so stilsicher in Szene gesetzt, der Film in seiner Form so vollendet, dass das Gesamtbild stimmig bleibt – so abwegig manche Idee auch erscheinen mag. Karikatureske Figuren, wie der von Dave Franco wunderbar widerlich verkörperte Dreckskerl eines Schwagers, fügen sich makellos in den Kosmos aus roher Gewalt und magischem Realismus ein. Ein unverbrauchter, ungschamiger Schuss hyperfeminines Adrenalin, den das Genrekino dringend benötigt hat. Der Name ist Programm.
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    (Christian Pogatetz)
    20.02.2024
    19:36 Uhr