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    Die Geister, die ich streamte

    Exklusiv für Uncut vom Slash Filmfestival
    Ob über YouTube, TikTok oder Twitch: in Zeiten der digitalen Vernetzung sind Influencer ein kaum wegzudenkender Teil unserer Gesellschaft geworden. Für die einen sind sie ein unterhaltsamer Gegenpol zum monotonen Alltag, eine Projektionsfläche für ein Wunschleben ohne monetäre Sorgen und Verantwortung. Für andere repräsentieren sie all das, was im 21. Jahrhundert falsch läuft. Sozusagen das pure Grauen einer digitalisierten Welt. Die polarisierende Wahrnehmung des Influencer-Daseins machen sich Vanessa und Joseph Winter in ihrem Regiedebüt „Deadstream“ intelligent zu Nutze.

    Vordergründig handelt der Film von Shawn Ruddy (Regisseur Joseph Winter), ein einst gefeierter Internetstar mit großer Gefolgschaft. Über die Livestreaming-Plattform Liviid (eine bewusste Anspielung auf das reale Pendant Twitch) hat er sich in Online-Sphären einen Namen gemacht, dessen provokante Prank-Videos spalten jedoch die Gemüter. Nach einer Reihe von Skandalen steht seine Karriere vor dem Abgrund. Um seinen geschädigten Ruf zu reparieren, entscheidet sich der Influencer für ein waghalsiges Vorhaben: er begibt sich in ein vermeintlich verfluchtes Haus und hält seine Erkundungstour live mit der Kamera fest. Seiner Gefolgschaft will er ein für alle Mal beweisen, was für ein mutiger Kerl in ihm schlummert. Blöd nur, dass der Spuk sich als weit mehr herausstellt als lediglich eine urbane Legende. Die Geister im Haus werden schnell auf die Präsenz der sterblichen Webpersönlichkeit aufmerksam. Was tut man nicht alles für die Klicks.

    In ihrem Debütfilm transportieren die Winters Found Footage in die moderne Welt des Streamings – und verleihen dem verstaubten Subgenre einen frischen Anstrich. Zuschauern wird der Eindruck vermittelt, man würde gerade selbst einem Livestream zuschauen. Die authentische Webästhetik und die generelle Handhabe sozialer Medien zeigt, dass hier Menschen am Werk waren, die sich in dieser Nische bestens auskennen zu scheinen. Die permanente Selbstweihräucherung und Kritikunfähigkeit bekannter Internetberühmtheiten á la Logan Paul wird anhand der Hauptfigur herrlich aufs Korn genommen. Der Mythos „Cancel Culture“ erweist sich hier einmal mehr als bedeutungsschwangerer Kampfbegriff, an dem sich Menschen aufhängen, um längerfristige Konsequenzen für eigene Fehltritte zu umgehen. Beginnt das alles noch als leichtfüßige Persiflage auf die verquere Online-Kultur, mutiert der Film später zum astreinen Horrorfilm mit effektvoll aufgebauten Schockmomenten und Jump Scares. „Deadstream“ enthüllt sich als wahre Wundertüte für Genre-Fans, die in kompakten 90 Minuten amüsiert, gruselt und einem seine eigene Internet-Persona in Frage stellen lässt. Der perfekte Horrorfilm für eine Generation, die sich durchgehend im Online-Modus befindet.
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    (Christian Pogatetz)
    30.09.2022
    08:36 Uhr