Filmkritik zu Dreamin' Wild

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Plötzlich berühmt

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Musikerbiografien gibt es gegenwärtig wie Sand am Meer – wirklich gute sind jedoch eine seltene Angelegenheit. Eine solche Rarität war beispielsweise der 2014 veröffentlichte „Love & Mercy“, mit dem Bill Pohlad das turbulente Leben von „Beach Boys“-Frontmann Brian Wilson nachzeichnete. Und das tat er fern von gängigen Klischees und anderen dramaturgischen Hürden, die Biopics für gewöhnlich überwinden müssen. Acht Jahre später meldet sich Regisseur Pohlad nun mit einer Filmbiografie zurück, die sich erneut der heilenden Kraft der Musik widmet – wenngleich auch anhand eines weit weniger bekannten Beispiels.

    „Dreamin‘ Wild“ erzählt die wahre Geschichte der Brüder Donnie (Casey Affleck) und Joe Emerson (Walton Goggins). Vor Jahrzehnten nahm das ungleiche Gespann im zarten Jugendalter im ländlichen Anwesen der Eltern gemeinsam eine Platte auf. Ihr fürsorglicher Vater Don (Beau Bridges) leitete damals alles in die Wege, um seinen musikalisch talentierten Söhnen eine wirkliche Karriere zu ermöglichen. Doch selbst all der Aufwand schien sich ins Nichts zu verlaufen. 2011 versucht sich Donnie weiterhin ein Standbein als Musiker – mittlerweile mit Hilfe seiner Frau Nancy (Zooey Deschanel) - aufzubauen, wenn auch mit bestenfalls moderatem Erfolg. Sein gutmütiger Bruder Joe hat dem Rockstar-Dasein hingegen gänzlich den Rücken gekehrt und sich stattdessen der Handwerksarbeit verschrieben. Doch dann ereilen die beiden plötzlich sensationelle News: knapp 30 Jahre nach Aufnahme des Albums „Dreamin‘ Wild“ wird ein Produzent auf die Platte aufmerksam und möchte sie groß auf den Markt bringen. Jahrzehnte später wird die Musik der Brüder also auf einmal von der Masse entdeckt und macht die Brüder über Nacht berühmt. Die logische Folge ist ein baldiges Band-Revival. Donnie kann den plötzlichen Erfolg jedoch nicht fassen und kommt schnell zur Erkenntnis: weder er – noch sein Bruder sind dieselben Menschen wie damals.

    Ob nun Maler, Schriftsteller oder Komponisten: früher war es gang und gäbe, dass das eigene Schaffen erst Jahre nach dem Ableben des Künstlers ein breites Publikum erreichen sollte. Hierzu bietet der außergewöhnliche Fall der Gebrüder Emerson die moderne Gegenthese aus dem Zeitalter der digitalen Vernetzung. Und dieser wird in filmischer Form als rührendes Märchen nacherzählt, das zwischen der Vergangenheit und Gegenwart wechselt und diese gelegentlich sogar ineinander übergehen lässt. Was tun, wenn die ganze Welt von dir verlangt, zu deinen Ursprüngen zurückzukehren, obwohl du als Künstler eigentlich bereits mit der Vergangenheit abgeschlossen hattest? Oscarpreisträger Casey Affleck stellt den inneren Kampf, den die geschundene Musikerseele seiner Figur auszubaden hat, mit großer Glaubhaftigkeit nach. Walton Goggins füllt den brüderlichen Gegenpart mit einer großen Portion Wärme und Gutmütigkeit, die einen angenehmen Kontrast zu Donnie Emersons zynischer Weltsicht bietet. Eine Symbiose aus stimmungsvollen Bildern und den kraftvollen Songs der Emerson-Brüder verhilft den Film zu emotionalen Höhenflügen und einem Hauch Fantastik. Die Kernbotschaft á la „Gib niemals deinen Traum auf“ mag einigen Zusehenden bestimmt zu vertraut und schlicht vorkommen, doch gerade in der Simplizität liegt hier die Würze. Denn auch wenn Bill Pohlad mit „Dreamin‘ Wild“ nicht die Qualitäten seines Vorgängerwerks erreichen kann, ist ihm erneut ein Musikerdrama gelungen, das toll gespielt ist, mitreißt und – so kitschig es auch klingen mag – an die unbändige Kraft des Träumens erinnert.
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    (Christian Pogatetz)
    09.10.2022
    08:35 Uhr