Filmkritik zu Nomadland

Bilder: The Walt Disney Company Fotos: The Walt Disney Company
  • Bewertung

    Leben am Rande der Gesellschaft

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Bereits mit ihrem 2015 erschienenen Debütfilm „Songs My Brothers Taught Me“ konnte Indie-Regisseurin Chloé Zhao für Aufsehen in der Filmwelt sorgen. Spätestens aber seit Veröffentlichung ihres vielfach gepriesenen Charakterdramas „The Rider“ im Jahre 2017 gilt die gebürtige Chinesin, die schon seit Jahrzehnten in den USA lebt, als einer der großen Hoffnungsträgerinnen der kontemporären Independent-Filmszene Amerikas. Auffallend an Zhaos bisheriger Arbeit war ihr außergewöhnlich naturalistischer Inszenierungsstil und die häufige Verwendung unerfahrener Laiendarsteller für große Rollen. Bevor die Filmemacherin nun demnächst mit „The Eternals“ einen Ausflug ins effektgeladene Bombast-Kino der Marke Marvel wagt, meldet sie sich vorher noch einmal mit einem deutlich kleiner budgetierten Projekt zurück. „Nomadland“ nennt sich das Werk und durfte in Folge der Weltpremiere bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig gar den begehrten Goldenen Löwen für den Besten Film mit nach Hause nehmen. Auch wenn Zhao für ihren neuesten Film wieder vermehrt Laien besetzt hat, konnte sie sich mit der zweifachen Oscar-Preisträgerin Frances McDormand gleich eine wahre Hollywood-Größe als Hauptdarstellerin angeln.

    McDormand schlüpft in die Rolle der verwitweten Fern, eine Anfang 60-jährige Frau, die durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise 2008 nahezu ihr gesamtes Hab und Gut verloren hat. Die im Bundesstaat Nevada angesiedelte Kleinstadt Empire wurde von der Krise so hart getroffen, dass das Städtchen der eigenen Postleitzahl beraubt wurde und de facto nicht mehr existiert. Seit jeher hat Fern ihre übriggebliebenen Gegenstände in einen kleinen Wohnwagen gepackt, mit dem sie stets dorthin fährt, wo es für sie mögliche Gelegenheitsjobs gibt. Obwohl Fern allein aufgrund ihres gut-bezahlten Jobs bei Amazon die Möglichkeit hätte, wieder ein als „normal“ empfundenes Dasein zu führen, wehrt sie sich vehement dagegen. Viel lieber verbringt sie gemeinsam mit anderen Nomaden, die wie sie auch wegen der Finanzkrise ihre Existenzen links liegen lassen mussten, ein freies Leben auf der Straße, das fern von jeglicher Gesellschaft im klassischen Sinne liegt.

    Zhao zeichnet in ihrem neuen Film, der abermals von einem angenehmen Naturalismus durchzogen wird, ein authentisches Abbild einer Subgesellschaft, deren früheres Leben durch die Folgen des Kapitalismus ruiniert wurde. Das Drama ist jedoch alles andere als eine mit Holzhammer vermittelte Kapitalismuskritik, sondern in erster Linie ein tief-humanistisches Werk, das sich ausreichend Zeit nimmt, um die jeweiligen Schicksale der Leidtragenden glaubhaft und befreit von Kitsch zu porträtieren. Das gemächliche Tempo, in dem sich die Charakterstudie fortbewegt, wird zwar bestimmt bei so manchen Zuschauern Langeweile hervorbringen, die naturalistische Inszenierung macht es einem jedoch leicht in den dargestellten Mikrokosmos einzutauchen. Die rauschhafte Bildgewalt der vielzähligen Landschaftsaufnahmen lädt zum Staunen ein und kreiert seine eigene visuelle Poesie, die stets mit dem Inhalt des Gezeigten harmoniert. Die zum Großteil von Laien verkörperten Figuren, für die Zhao zu weiten Teilen tatsächliche Nomaden und Gesellschaftsaussteiger besetzte, tun für die Authentizität das Übrige. Frances McDormand reiht sich trotz ihrer jahrzehntelangen Filmerfahrung mühelos in die Riege an Laiendarsteller*innen ein und gibt den Eindruck einer waschechten Nomadin. Ihr subtiles Porträt einer Frau älteren Semesters, die in der Vergangenheit vieles durchmachen musste und sich für ein neues Leben fern von der kapitalorientierten gesellschaftlichen Mitte entschieden hat, strotzt nur so vor Empathie und Natürlichkeit. Einzig und allein der penetrante musikalische Score des geschätzten Komponisten Ludovico Einaudi tut dem angestrebten Realismus des Films an manchen Stellen Abbruch.

    Abseits dessen ist Chloé Zhao mit „Nomadland“ ein großer Wurf gelungen, der die meisten seiner Vorschusslorbeeren absolut verdient hat. Die Regisseurin skizziert ein tief-menschliches und von seltener Authentizität durchdrungenes Abbild eines oft vergessenen Mikrokosmos, der ein klassisches Dasein im kapitalistischen Herzen Amerikas aufgegeben hat und am Rande der Gesellschaft verweilt. Ein tragisches und gleichzeitig angenehm warmherziges Werk über all jene, die vom System links liegen gelassen wurden und denen selten die nötige Bühne gegeben wird, die Zhao ihnen hier gewährt.
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    (Christian Pogatetz)
    30.10.2020
    20:32 Uhr