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  • Bewertung

    Der Alltag der Vollstrecker

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2020
    Viele staunten nicht schlecht als der iranische Wettbewerbsbeitrag „There Is No Evil“ den hochdotierten Goldenen Bären mit nach Hause nehmen durfte und somit zum großen Gewinner der diesjährigen Berlinale gekürt wurde. Erst am Tag vor der Preisverleihung feierte der Film seine Weltpremiere, zu der ausgerechnet Regisseur Mohammad Rasoulof nicht anreisen durfte, da er keine Reiseerlaubnis erhielt. Handelt es sich beim Sieg seines Beitrags nun also um eine rein politisch motivierte Entscheidung?

    Nein! Denn auch abseits der systematischen Mängel des Irans, auf die der Film hinweist, handelt es sich hier um ein durchgehend kraftvolles und in seinen schonungslosen Realismus mitreißendes Werk, das lange in einem nachhallen dürfte.

    Durch vier unabhängig von einander erzählte Episoden widmet sich das zweieinhalbstündige Drama vier unterschiedlichen Personen, die eines verbindet: sie dienen beziehungsweise haben einst dem totalitären Regime ihres Landes gedient und dadurch auch schon das eine oder andere Menschenleben auf den Gewissen. Die vier porträtierten Männer geraten aufgrund ihrer Taten (oder der möglichen Taten) in einen moralischen Konflikt und werden vor die Frage gestellt, ob sie sich ihre kaltblütige Aktionen eingestehen sollen, um (sofern noch reparabel) das moralisch Richtige zu tun, oder diese weiterhin verdrängen und so gedankenlos ihrem Land dienen.

    Regisseur Rasoulof spielt bei der komplexen Darstellung der vier (potentiellen) Mörder oft mit der Erwartung der Zuschauer. So beginnt die erste (und kürzeste) Episode noch ganz entspannt und wir folgen Heshmat, der uns als liebevoller Familienvater vorgestellt wird, in aller Ruhe in seinem Alltag, gehen mit diesem einkaufen und sollen so eine gewisse Sympathie zu seiner Figur aufbauen. Umso tiefer sitzt der Schock, als dann in den letzten Einstellungen derselben Episode dessen wahrer Beruf enthüllt wird: und zwar der des Henkers. Rasoulof zeigt damit wie das einzige Betätigen eines Knopfs die allgemeine Perzeption einem Menschen gegenüber verzerren und auch völlig verändern kann. Der Regisseur beharrt aber in den folgenden vier Episoden nicht auf diesen reinen Schockfaktor, sondern verwendet diesen vielmehr nur um den allgemeinen Grundton zu setzen. Ein jeder der vier gezeigten Männer arbeitet (ob nun freiwillig oder nicht) für die höchst problematische Todesstrafe des Landes und wird vor einen moralischen Konflikt gestellt.

    In Episode zwei, die in ihrer Inszenierung einem spannungsgeladenen Thriller gleicht, bekommen wir es mit dem jungen Poulya zutun, der eine Exekution vornehmen soll, dabei jedoch mit seinem eigenen moralischen Kompass zu kämpfen hat. Trotz der angespannten Grundstimmung handelt es sich hier um die einzige Episode, die in ein unerwartet hoffnungsvolles Finale mündet, das musikalisch passend von der antifaschistischen Hymne „Bella Ciao“ begleitet wird.

    In der dritten Episode kehrt der Soldat Javad für ein paar Tage in die Heimat zurück, um seiner Freundin an ihrem Geburtstag einen Besuch abzustatten. Er rechnet jedoch nicht damit, von den Schatten seiner eigenen Vergangenheit eingeholt zu werden.

    Die vierte und letzte Episode widmet sich hingegen einem älteren Mann, der Besuch von seiner in Deutschland sesshaften Nichte (gespielt von Rasoulof eigener Tochter) erhält. Dieser birgt jedoch ein dunkles Geheimnis in sich, das endlich raus muss. Durch die eurozentrische Perspektive der Nichte, die sich fernab der klassischen Wertvorstellungen des Irans befindet, bekommt der Film gegen Ende auch eine Identifikationsfigur hinzugefügt, aus deren Auge heraus auch einem westlichen Publikum die Sitten des Landes genauer veranschaulicht werden.

    Allgemein verbindet die vier Geschichten neben dem immer wieder aufgegriffenen Thema der Todesstrafe auch die Frage der Schuld und Komplizenschaft.

    Ist es moralisch tragbar ein Lebewesen zu töten, nur um den Gesetz des Landes zu gehorchen? Machen sich die Protagonisten durch ihre Taten automatisch zu Mördern oder gibt es hier einen Graubereich? Sind sie letztlich nicht sowieso nur Versatzstücke einer ohnehin korrupten Gesellschaft und werden daher gar nicht erst vor die Wahl gestellt, ihre Aktionen zu hinterfragen?

    Größtenteils befreit von Kitsch und getragen von kühlen, in ihrer Komposition aber auch oft eindringlichen Bildern versucht Regisseur Rasoulof hier auf unbequem authentischem Wege diesen Fragen nachzugehen. Dabei nimmt der Film auch eine sichtlich kritische Perspektive der fraglichen Praktiken des Irans gegenüber ein, weshalb dem Regisseur wahrscheinlich auch die Ausreise untersagt wurde.

    Unterm Strich bleibt hier ein formal eindrucksvolles und narrativ (ganz ohne emotionale Manipulation) mitreißendes Episodendrama, dessen Berlinale-Sieg ein großes Zeichen gegen die menschenverachtende Politik des Landes setzt und auf eine weiterhin rosige Zukunft für das iranische Kino hoffen lässt.
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    (Christian Pogatetz)
    01.03.2020
    20:15 Uhr