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69.2% Bewertung
  • Ein romantischer Albtraum, zärtlich und gelitten

    Die Geschichte einer jugendlichen Liebesgeschichte, die sich in den 1980er Jahren auf den stillen und staubigen Straßen des amerikanischen Mittleren Westens entfaltet, ist Bones and All (auch) eine Geschichte von Menschen, die gezwungen werden, andere Menschen zu essen. Bones and All ist nicht daran interessiert, das Thema in seinem Herzen zu sensationslüstern zu machen, und verwendet Kannibalismus als Linse, um nach innen zu schauen und die ursprünglichen Gefühle zu finden, die wir in unserer Brust tragen. Sicher, ein räuberischer Instinkt, aber vor allem ein anderer Instinkt, der uns zu Tieren macht, der uns zu einem Teil der Menschheit macht: das Bedürfnis nach Verbindung, nach Verständnis, nicht nur für uns selbst, sondern für und mit Gleichgesinnten überleben zu wollen uns. Eine Geschichte über die Person, deren Fleisch wir in unser eigenes integrieren wollen: Bones and All ist eine schillernde Erforschung von Isolation und Intimität. Es ist ein süßer Albtraum voller Romantik und Tragödie.
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    04.12.2022
    09:39 Uhr
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    Zum Fressen gern

    Da lobe ich mir Hannibal Lecter: Zumindest hat sich dieser die Leber gebraten und fein gewürzt und dazu noch einen Chianti genossen. Das ist Kannibalismus mit Stil. Andererseits: Der belesene Feingeist mit Hang zur Bestie ist ein Psychopath und nicht von so genetisch bedingtem Zwang durchs Leben gepeitscht wie diese beiden jungen Endteenies hier in Luca Guadagninos neuem, gar auf der heurigen Viennale gezeigten Horrordrama Bones and All. Bei so viel unüberwindbarer Triebhaftigkeit haben Tischmanieren das Nachsehen. Kein italienischer Wein im Dekanter, und die Serviette steckt sich auch niemand in den Ausschnitt, denn Blut bekommt man selten gut raus, hat man nicht gerade Dr. Beckmanns zur Hand. Und so ist dieses Besudele mit dem Lebenssaft Menschen wie Taylor Russel oder Timothée Chalamet ein von Kindheitstagen an vertrauter Umstand. Die Gier auf Menschenfleisch hat deren Leben mit Hindernissen zugepflastert, dass es ärger nicht geht. Kaum beißt Maren ihrer besten Freundin den Finger ab, muss Papa mit Kind fluchtartig das Land verlassen. Vielleicht ließe sich diese Anomalie ja erklären – keine Ahnung, warum in diesem Fall nicht die Wissenschaft herangezogen wurde, denn nicht alle hätten vermutlich die Lösung für solche Extreme im 21. Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen gesehen. Aber was sich nicht erklären lässt, will man sich auch nicht erklären lassen. So kommt es, dass Maren bald allein dasteht, weil der leidgeprüfte Vater das Handtuch wirft. Was tun, mit taufrischen achtzehn Jahren und keinerlei Schulpflicht? Sie trifft auf den seltsamen Sully, einem Eigenbrötler und Obdachlosen, der sie auf eine halbe Meile hin bereits gerochen hat, trägt er doch dasselbe Handicap mit sich herum wie Maren. Wenig später ist es dann Lee, wohl altersadäquater als die von Mark Rylance verkörperte Figur. Und wenig zimperlich, was die Beschaffung von Frischfleisch angeht. Mit dieser Hingabe aufgrund impulsiven Hungers und einer gestohlenen Karre bewegen sich die beiden quer durch die Vereinigten Staaten, weil Maren ihre verschollene Mutter finden und das Rätsel um diese äußerst unangenehme Veranlagung lüften will.

    We are what we are – so nennt sich zumindest ein mexikanischer und später nachverfilmter amerikanischer Horrorfilm rund um eine kannibalische Familie, die mit Sicherheit lieber auf Grillhühner stehen würde als auf die eigene Spezies. Doch sie sind nun mal, was sie sind. Genauso sehen das Maren und Lee. Und vielleicht auch Sully. Basierend auf dem Jugendbuch (!) von Camille DeAngelis setzt Luca Guadagnino nach dem phänomenalen Liebesfilm Call Me By Your Name abermals den schlaksigen Chalamet in Szene. Der gibt einen James Dean-Outlaw mit gefärbter Lockenpracht, aber sonst wenigen schauspielerischen Extras. Der schöne Star spielt mittlerweile meist sich selbst, während Taylor Russel (Waves, Lost in Space) als introvertierte Vagabundin ihrem Co-Star, aber nicht Mark Rylance, die Show stiehlt. Vielleicht liegt‘s an der fehlenden Chemie zwischen den beiden. Das toxische Süppchen kocht lieber Spielbergs Lieblingsstar Rylance, der die verkappte Psycho-Nummer hochfährt, und am liebsten würde man ihm einen ganzen Film gönnen, würde er seine abstoßenden Attitüden nicht so sehr zelebrieren. Doch das ist gut so, diese Rolle gibt dem Film etwas Tiefe, während das übrige Szenario in den Tag, oder besser gesagt, in filmische zwei Stunden hineinlebt, ohne ein konkretes Ziel zu haben. Ja, gut, die Mutter in Minnesota. Aber in welchem Film sucht denn nicht irgendwer irgendwann seine Erzeuger, angetrieben von apokalyptischen Umständen im Rücken? Noch dazu weiß Guadagnino mit der Geißel des Fleisches nicht ganz so gut umzugehen. Als Metapher für ein Coming of Age-Roadmovie ist das Konzept zu vage, denn der Kannibalismus ist längst kein Ventil für das Erwachsenwerden wie in Julia Ducournaus viel einprägsamerem und sehr ähnlich gelagerten Drama Raw. Decournau wagt viel mehr Schritte hinaus aus der Box, während Guadagnino in gewisser Weise gutzuheißen gedenkt, dass Natural Born Killers wie diese, die nicht wie bei Oliver Stone erst durch dysfunktionale Medienpädagogik so gemacht wurden, ihr gesellschaftsschädigendes Verhalten nicht zwingend in den Griff kriegen müssen. Warum die Abkehr von der Gesellschaft? Vorwiegend dürfte es Scham sein. Oder die Lust am Anderssein.
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    03.12.2022
    12:45 Uhr
  • Bewertung

    Love is all around

    BONES AND ALL ist ein romantisches Coming of Age-Roadmovie mit kannibalischem Beigeschmack. Wunderschöne USA-Bilder wechseln mit recht blutigen Fressszenen ab. Und wäre da nicht die Figur des Sully (genial verstörend gespielt von Mark Rylance), würde das Liebesmärchen nicht auf die Probe gestellt werden …
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    03.12.2022
    09:34 Uhr
  • Bewertung

    Kannibale und Liebe

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Mit „Call Me By Your Name“ trat Regisseur Luca Guadagnino in den späten 2010er-Jahren ein unerwartetes Phänomen in der Filmwelt los. Die zärtliche LGBT-Romanze fand bei zahlreichen jungen Menschen Anklang, schnurstracks war der damalige Newcomer Timothée Chalamet zum Posterboy einer gesamten Generation avanciert. Dass der italienische Filmemacher auch ganz anders kann, bewies er nur ein Jahr später mit „Suspiria“ - einer eigenwilligen aber durchaus effektiven Neuinterpretation des zeitlosen Horror-Meilensteins von Dario Argento. Sein neuester Film eint nun seine Vorlieben für Horror und jugendlichem Herzschmerz zu einem großen (und zugebenermaßen unebenen) Ganzen. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis erzählt „Bones & All“ nämlich eine Liebesgeschichte zwischen zwei Kannibalen. Für die männliche Hauptrolle hat sich Guadagnino erneut Timothée Chalamet angeln können, seine Geliebte wird von der wundervollen Taylor Russell („Waves“) verkörpert. Ironischerweise sah sich erst unlängst Chalamets ehemaliger „Call Me By Your Name“-Szenenpartner Armie Hammer mit Vorwürfen des Kannibalismus konfrontiert. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

    Jedenfalls spielen Russell und Chalamet in diesem kuriosen Genre-Mischmasch die zwei jungen Erwachsenen Maren und Lee, die in den 1980ern nach ihrem Platz in der Welt suchen. Seit sie denken kann, wird Maren von einer schwer kontrollierbaren Lust nach Menschenfleisch gesteuert. Als ihr Hang zu kannibalistischen Trieben Überhand nimmt, wird das Mädchen von ihrem Vater (André Holland) allein zurückgelassen. Die 18-Jährige muss fortan auf eigenen Beinen die Tücken des Alltags und ihre blutigen Gelüste navigieren. Hoffnung erntet die junge Frau als sie in einem Supermarkt den rebellischen Lee kennenlernt, der - wie sich bald herausstellen sollte - unter dem selben Schicksal leidet. Es bahnt sich Romantisches an.

    Guadagnino vermischt Versatzstücke eines Roadmovies mit ungeahnt blutigen Splatter-Momenten und einer sinnlich-rebellischen Romanze, die trotz des zeitlichen Settings an moderne Befindlichkeiten angepasst wirkt. Praktisch ein „Bonnie & Clyde“ für die Generation Z - mit einem klitzekleinen aber essentiellen Kannibalen-Spin. Der Film blüht dann auf, wenn das zwischenmenschliche Drama in den Fokus rückt. Die Außenseiter-Parabel mag zuweilen überdeutlich sein - die Art und Weise, wie das Drehbuch von David Kagjanich Themen wie Teenage-Angst und Einsamkeit in ein unorthodoxes Narrativ verwoben hat, ist aber durchaus als gelungen zu bezeichnen. Das Problem: die zwei Tonalitäten des Films gehen so gar nicht Hand in Hand. Die Horrorelemente sind zu brachial inszeniert, zu sehr auf plumpen - nahezu unfreiwillig komischen - Schockfaktor aufgebaut, um mit dem geerdeten Teenie-Drama zu harmonieren. Die atmosphärischen Brüche sind zu radikal, jegliche Stimmigkeit im Erzählton wird dadurch zunichte gemacht. Besonders ärgerlich ist das stetige Auftreten eines weiteren, von Mark Rylance verkörperten Kannibalen, dessen karikaturartige Darstellung der Figur zu einem gewaltigen Störfaktor wird. Schade drum, denn die Grundzutaten wären alle gegeben: atmosphärische Bilder, überzeugende Darsteller und eine überaus spannende Prämisse. Leider wurden diese letztlich zu keinem stimmigen Brei zusammengerührt. Wer eine gelungene Mischung aus Coming-Of-Age-Drama und Kannibalen-Horror sehen will, sollte sich stattdessen vielleicht einfach besser nochmal den weit überlegeneren „Raw“ von Julia Ducournau anschauen. Das geht besser, Signor Guadagnino!
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    03.09.2022
    08:35 Uhr