Filmkritik zu Bones and All

Bilder: Warner Bros, MGM Fotos: Warner Bros, MGM
  • Bewertung

    Kannibale und Liebe

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Mit „Call Me By Your Name“ trat Regisseur Luca Guadagnino in den späten 2010er-Jahren ein unerwartetes Phänomen in der Filmwelt los. Die zärtliche LGBT-Romanze fand bei zahlreichen jungen Menschen Anklang, schnurstracks war der damalige Newcomer Timothée Chalamet zum Posterboy einer gesamten Generation avanciert. Dass der italienische Filmemacher auch ganz anders kann, bewies er nur ein Jahr später mit „Suspiria“ - einer eigenwilligen aber durchaus effektiven Neuinterpretation des zeitlosen Horror-Meilensteins von Dario Argento. Sein neuester Film eint nun seine Vorlieben für Horror und jugendlichem Herzschmerz zu einem großen (und zugebenermaßen unebenen) Ganzen. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis erzählt „Bones & All“ nämlich eine Liebesgeschichte zwischen zwei Kannibalen. Für die männliche Hauptrolle hat sich Guadagnino erneut Timothée Chalamet angeln können, seine Geliebte wird von der wundervollen Taylor Russell („Waves“) verkörpert. Ironischerweise sah sich erst unlängst Chalamets ehemaliger „Call Me By Your Name“-Szenenpartner Armie Hammer mit Vorwürfen des Kannibalismus konfrontiert. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

    Jedenfalls spielen Russell und Chalamet in diesem kuriosen Genre-Mischmasch die zwei jungen Erwachsenen Maren und Lee, die in den 1980ern nach ihrem Platz in der Welt suchen. Seit sie denken kann, wird Maren von einer schwer kontrollierbaren Lust nach Menschenfleisch gesteuert. Als ihr Hang zu kannibalistischen Trieben Überhand nimmt, wird das Mädchen von ihrem Vater (André Holland) allein zurückgelassen. Die 18-Jährige muss fortan auf eigenen Beinen die Tücken des Alltags und ihre blutigen Gelüste navigieren. Hoffnung erntet die junge Frau als sie in einem Supermarkt den rebellischen Lee kennenlernt, der - wie sich bald herausstellen sollte - unter dem selben Schicksal leidet. Es bahnt sich Romantisches an.

    Guadagnino vermischt Versatzstücke eines Roadmovies mit ungeahnt blutigen Splatter-Momenten und einer sinnlich-rebellischen Romanze, die trotz des zeitlichen Settings an moderne Befindlichkeiten angepasst wirkt. Praktisch ein „Bonnie & Clyde“ für die Generation Z - mit einem klitzekleinen aber essentiellen Kannibalen-Spin. Der Film blüht dann auf, wenn das zwischenmenschliche Drama in den Fokus rückt. Die Außenseiter-Parabel mag zuweilen überdeutlich sein - die Art und Weise, wie das Drehbuch von David Kagjanich Themen wie Teenage-Angst und Einsamkeit in ein unorthodoxes Narrativ verwoben hat, ist aber durchaus als gelungen zu bezeichnen. Das Problem: die zwei Tonalitäten des Films gehen so gar nicht Hand in Hand. Die Horrorelemente sind zu brachial inszeniert, zu sehr auf plumpen - nahezu unfreiwillig komischen - Schockfaktor aufgebaut, um mit dem geerdeten Teenie-Drama zu harmonieren. Die atmosphärischen Brüche sind zu radikal, jegliche Stimmigkeit im Erzählton wird dadurch zunichte gemacht. Besonders ärgerlich ist das stetige Auftreten eines weiteren, von Mark Rylance verkörperten Kannibalen, dessen karikaturartige Darstellung der Figur zu einem gewaltigen Störfaktor wird. Schade drum, denn die Grundzutaten wären alle gegeben: atmosphärische Bilder, überzeugende Darsteller und eine überaus spannende Prämisse. Leider wurden diese letztlich zu keinem stimmigen Brei zusammengerührt. Wer eine gelungene Mischung aus Coming-Of-Age-Drama und Kannibalen-Horror sehen will, sollte sich stattdessen vielleicht einfach besser nochmal den weit überlegeneren „Raw“ von Julia Ducournau anschauen. Das geht besser, Signor Guadagnino!
    1705313743158_ee743960d9.jpg
    (Christian Pogatetz)
    03.09.2022
    08:35 Uhr