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  • Wenn Kunst den Aufstand probt

    Bevor Laura Poitras (gewann den Oscar 2014 für die Snowden-Doku Citizenfour) letztes Jahr den Goldenen Löwen von Venedig gewann, war mir der Name Nan Goldin überhaupt kein Begriff. Gäbe es ihren preisgekrönten Film All the Beauty and the Bloodshed nicht, würde ich auch weiterhin nichts von ihr wissen. Eine Bildungslücke? Ich bin mir nicht sicher. Zumindest haben einige in meinem Umfeld noch nie von dieser Künstlerin gehört, und wenn, dann käme ihnen maximal ihr Name bekannt vor.

    Gut, soll sein, ich lass mich ja gern weiterbilden, und so erfahre ich im Zuge des vorliegenden, aus zwei Erzählsträngen geflochtenen Films von einer US-Amerikanerin mit entbehrungsreicher Kindheit, entbehrungsreicher Jugend, einem Dasein als Young Adult mit allerhand Sex and Drugs und nicht wirklich Rock ‘N Roll, dafür aber mit ganz viel LGBTQ und dem Drama AIDS. Nan Goldin also. Fotografin für Szene und Underground, stets biographisch gefärbt, stets sehr lebensnah und ohne Blatt vor dem Mund. Was ihr selbst widerfuhr, dürfen alle anderen durchaus wissen. Ob Prostitution, gefühlskaltes Elternhaus oder der Suizid ihrer acht Jahre älteren Schwester, die ihr viel bedeutet hat.

    Doch das ist nicht alles, was Poitras in ihren sehr Amerika-lastigen Film packt. Da gibt es noch das gewisse Etwas, den zweiten Erzählstrang, die mehr oder weniger in der jüngsten Vergangenheit vorgefallene Auseinandersetzung Goldins mit dem Pharmakonzern Purdue Pharma, das zum Imperium der stinkreichen Familie Sackler gehört hat, von der ich auch zum ersten Mal höre, und hätte es diesen Film nicht gegeben, würde ich auch hier weiter nichts wissen. Anscheinend weist mein Allgemeinwissen ordentliche Lücken auf, aber hey: wie heißt es doch so schön bei Platon: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Diese Sacklers haben also ein Medikament auf den Markt gebracht, genauer gesagt ein Opioid namens Oxycontin – eine schmerzstillende Blockbuster-Arznei, möchte man meinen, aber hochgradig abhängig machend. Goldin war eines dieser Suchtopfer, kam darüber hinweg und zieht nun mit ihrer eigens gegründeten Bewegung P.A.I.N. von Kunstforum zu Kunstform, um den Namen Sackler aus jeder musealen Einrichtung zu verbannen, haben die doch ganz schön viel Geld in die Kunst investiert. Goldin kann sich das leisten, sie ist schließlich selbst überall Teil des Ausstellungsprogramms, niemand will ihre Werke missen, sprechen die doch so ein klares Lokalkolorit weit jenseits eines perfekten Bildes, dafür aber voller Atmosphäre und US-Zeitgeist.

    All the Beauty and the Bloodshed ist nichts, was man sich ansieht, um einen angenehmen Filmabend zu verbringen. Und hätte mich das Kinoabo-Service nonstop (Vielen Dank an dieser Stelle!) nicht zu einem Überraschungs-Kinoabend eingeladen, hätte ich dieses Werk auch nie auf meine Liste gesetzt. Ich konnte weder mit dem Namen noch mit der Problematik viel anfangen, und sogar bei Sichtung des Films fällt es mir schwer, zu dieser Welt, die Goldin ihre eigene nennt, Zugang zu finden. Es kommen Schicksale von Leuten ans Licht, die für Goldin zwar wichtig waren (und sind), mir aber fremd bleiben. Die Art zu leben, die Kunstszene des Undergrounds, aus welcher mir nur John Waters ein Begriff ist; dieses Einzelschicksal einer Person, zu welcher ich selbst und aus meinem eigenen Alltag heraus keine Verbindung knüpfen kann, berührt mich nur am Rande. Und es ist seltsam befremdend, laufenden Bildern zu folgen, die keine sind, und zwar notgedrungen, denn Goldins Oeuvre sind Diashows. So reiht Poitras ein Werkzitat ans andere, und zugegeben – manche sind erstaunlich, andere wiederum sind zwar spontan entstanden, aber technisch gesehen entbehrlich. Eine Kinodoku, zu 30 Prozent Diashow. Einerseits: Warum nicht. Andererseits wäre All the Beauty and the Bloodshed als Ergänzung für eine museale Retrospektive der Künstlerin besser aufgehoben.

    Doch auch wenn das Thema so breit gefächert ist wie ein Bauchladen an erschwerten Lebensbedingungen, Geldgier und Aktivismus, gelingt es dieser Dokumentation, all diese Elemente zusammenzubringen und so miteinander zu vermengen, dass der Film wie aus einem Guss wirkt. Dass er niemals langweilt und man dennoch dranbleiben will, auch wenn all die realen Personen im Film vehement in ihrer Aktionsblase bleiben. Das will nichts anderes heißen als das: Der Venedig-Gewinner des letzten Jahres ist als Film enorm gut gemacht, die Positionen im Film sind klar bezogen. Viel zu viel Stoff ist es aber dennoch, das rühmliche Ego ist groß und über Kunst lässt sich nach wie vor streiten.


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    16.04.2023
    17:25 Uhr
  • Bewertung

    Ein Leben zwischen Kunst, Leid und Aktivismus

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Die Filme der US-Dokumentaristin Laura Poitras scheuen sich nicht vor politischen Diskursen, die vielerorts als tabuisiert gelten. In ihrer 2006 erschienenen Doku „Irak - Mein fremdes Land“ beschäftigte sie sich mit der Besetzung des Iraks - und das aus der Perspektive der dort heimischen Bevölkerung. Für die kritische Auseinandersetzung mit amerikanischen Militärtruppen wurde die Regisseurin vom US-Außenministerium auf die Watch List gesetzt und als terrorverdächtig eingestuft. Poitras war zudem eine der allerersten Personen, der Zugriff auf die skandalträchtigen Dokumente der Überwachungorganisation NSA gewährt wurde - eben jene digitalen Dokumente, die der weltweit berühmte Whistleblower Edward Snowden 2013 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Den Weg dorthin porträtierte sie anhand intimer Gespräche mit Snowden und Wegbegleitern in ihrer oscarprämierten Doku „Citizenfour“. Als einer der Mitbegründerinnen der Freedom of Press Foundation macht sich Poitras für Meinungs- und Pressefreiheit stark macht. Die 58-Jährige ist gewiss nicht nur Filmemacherin, sondern auch eine waschechte Investigativjournalistin. Ein Umstand, der in ihrer neuesten Arbeit „All the Beauty and the Bloodshed“ wieder klar erkennbar wird.

    Im Vordergrund steht einmal mehr eine Kämpfernatur, die sich gegen Probleme systematischer Natur auflehnt: Nan Goldin. Die heute 69-jährige Fotografin ist seit Jahrzehnten ein kaum wegzudenkender Teil der New Yorker Undergroundszene. Aus konservativem Haus in Washington entsprungen, zog es sie in ihren Zwanzigern in die US-Metropole, wo sie rasch ein emanzipatorisches Erwachen erlebte und Teil progressiver Bewegungen wurde. Der Aktivismus der Künstlerin umfasst neben feministischen und queerfreundlichen Themen auch einen ganz besonderen Schwerpunkt. Als Begründerin der Gruppe P. A. I. N. (Prescription Addiction Intervention Now) leitet sie seit wenigen Jahren eine Kampagne gegen die einflussreiche Sackler-Familie. Die Sacklers sind im Besitz des mächtigen Pharmaunternehmen Purdue. Warum es Goldin und ihre Gefolgschaft auf den Konzern abgesehen haben? Purdue brachte in den Neunzigern das Schmerzmittel Oxycontin auf den Markt, das als Auslöser der Opioidkrise in den USA betrachtet wird. Das Pharmaunternehmen, das damals das vermeintlich geringe Suchtpotential der Droge bewarb, wird seit geraumer Zeit an den Pranger gestellt. Wichtig ist es den Aktivist*innen vor allem, den Namen Sackler von namhaften Kunstinstitutionen, die mit dem Clan in Assoziation stehen, entfernt zu bekommen.

    „All the Beauty and the Bloodshed“ lässt sich in zwei Hälften untergliedern, zwischen denen der Film frivol hin- und herspringt. Die eine widmet sich den frühen Jahren und dem künstlerischen Werdegang Nan Goldins. Die andere skizziert den gegenwärtigen Kampf gegen die Sackler-Familie. Es sind zwei Hälften, die einander komplementieren und ohne die jeweils andere wohl kaum so packend wäre. Durch Goldins lebhafte Fotografie wird das aufregende Leben der Post-Punk-Ikone adäquat bebildert. Der Film setzt aber keineswegs auf plumpe Emotion, sondern zeichnet ein über allen Dingen hinaus vielschichtiges Porträt einer großen Künstlerin und Aktivistin, das dieser mit großer Empathie begegnet. Es sind nämlich gerade humane Momente zwischendurch, eben die raren Momente der Schönheit, die zwischen all dem Schmerz, dem der Künstlerin widerfahren ist, herausragen. Und diese runden den neuen Film von Laura Poitras zu einem atemberaubenden Zeitdokument ab, in dem Vergangenheit und Gegenwart ineinander zerfließen. Eine Doku, die zwischen all den losen Enden, all den Momenten der Verzweiflung und Ausweglosigkeit, genuine Hoffnungsschimmer aufblitzen lässt. Eine Doku, die die allgegenwärtige Dringlichkeit aktivistischer Gruppierungen exemplarisch vor Auge führt. Eine Doku, die informiert, bewegt und einen in ihrer Sogkraft schlussendlich auch nicht mehr wieder loslässt. Bravo!
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    13.09.2022
    08:03 Uhr