Die 727 Tage ohne Karamo

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Forumseintrag zu „Die 727 Tage ohne Karamo“ von patzwey

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patzwey (08.02.2013 23:58) Bewertung
Stark stilisierte Anklageschrift
Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2013
Karamo ist verschwunden. Und das seit genau 727 Tagen. Er wurde wieder nach Afrika abgeschoben. Seine österreichische Frau kämpft zuhause verzweifelt um seine Rückkehr – und muss sich dazu noch um ihre beiden gemeinsamen Kinder kümmern. Dies ist nur eines von insgesamt 20 Schicksalen, die die österreichische Regisseurin Anja Salomonowitz in ihrem Dokumentarfilm „Die 727 Tage ohne Karamo“ beleuchtet. Im Mittelpunkt stehen zahlreiche Interviews mit Menschen, die von ihren Problemen und ihren Erfahrungen mit multikulturellen Ehen erzählen und sich mit dem österreichischem System rund um Deutschkurse und vorgeschriebenes Mindesteinkommen herumschlagen müssen.

Salomonowitz kehr somit nach einem kurzen Ausflug zum Spielfilm (wobei ihr Spielfilmdebüt „Spanien“ ursprünglich auch als Dokumentarfilm geplant war) wieder zu ihren Wurzeln zurück: dem politisch motivierten Dokumentarfilm. Ähnlich wie beispielsweise auch bei Michael Moore steht auch in ihrem Film nicht der Wunsch größtmögliche Objektivität zu erreichen, sondern das Ziel das vorherrschende System anzuklagen, im Mittelpunkt. Ihr Film tritt somit eine Mission „in guter Sache“ an und will das Publikum etappenweise über die anscheinend vorherrschenden Missstände aufklären. Das Problem an dieser Zugangsweise ist jedoch oft, dass – wie auch in diesem Film – die Zuseher entmündigt werden und versucht wird ihnen eine Meinung aufzudrücken indem man die Gegenseite erst gar nicht zu Wort kommen lässt. Aber was die Regisseurin letztendlich engagiert ans Tageslicht bringt, ist wahnsinnig interessant und vor allem eine Schande für das österreichische Fremdenrecht, das durch seinen undurchschaubaren Bürokratiedschungel die porträtierten Familien oft in den Wahnsinn treibt und die Liebe zwischen den österreichischen und „ausländischen“ Ehepartnern erschwert bis unmöglich macht. Der Film ist somit eine Abfolge vieler verschiedener Einzelschicksale. Es ist die Geschichte von Menschen, die kurz auf der Leinwand auftauchen und kurze Zeit später für das nächste Schicksal platz machen müssen. Oft wünscht man sich vielleicht etwas mehr über die einzelnen Menschen zu erfahren.

Durchaus interessant gestalten sich dabei Optik und Stil des Films. Die Regisseurin setzt in diesem Punkt interessanterweise mehr auf eine starke Bildsprache und bis ins kleinste Detail durchkomponierte Bilder, als auf Authentizität. Hierbei stechen sofort die alles umfassenden Gelbtöne ins Auge. Egal ob ein Bücherregal, Krawatten, Blumen, Stiefel, Schals, Blusen, Laub oder Bettwäsche: Die Ausstattung ist beinahe komplett in gelb oder orange gehalten. Doch nicht nur die stilistisch sehr gelungene Farbgebung wirkt künstlich und unnatürlich. Denn auch wenn die Schicksale wohl echt sind, sind viele der Interviews stark stilisiert und machen einen gestellten Eindruck, was den Dokumentarfilm über weite strecken sehr spielfilmartig wirken lässt (teilweise wie einen Seidl-Film mit „echten“ Protagonisten). So lassen einstudierte Phrasen, sowie unnatürliche Interviewsituationen die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm von Beginn an leicht verschwimmen.

Somit ist „Die 727 Tage ohne Karamo“ alles in allem eine ebenso gelungene wie stark subjektive Anklageschrift an das österreichische Fremdenrecht, bei der vor allem die stark stilisierten Bilder ins Auge stechen.
 
 

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