Das letzte Tabu

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Forumseintrag zu „Das letzte Tabu“ von Andretoteles

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Andretoteles (15.03.2024 13:59) Bewertung
Fußball als Spiegelbild der (Mehrheits)Gesellschaft
Exklusiv für Uncut
Kinder und Jugendliche beim Training: „Du spielst ja wie ein Mädchen. Was für ein schwuler Pass!“ Der Stammtisch beim samstäglichen Nachmittagsprogramm: „Wieso trägt diese Schwuchtel so bunte Schuhe?“ Homophobie und Sexismus sind tief verwurzelte Gesellschaftsphänomene. Während „schwule“ Beleidigungen im Alltag weitgehend verpönt sind, befreit sich der Fußball davon nur langsam. Rassismus ist an die Peripherie gedrängt, Affenlaute im Stadion gehören der Vergangenheit an. Homophobie keinesfalls! Weder in großen Stadien noch am dörflichen Fußballplatz, erst recht nicht in Kleingruppen und an Stammtischen. Es bleibt ein Tabuthema, etwas Verbotenes und wenig Besprochenes in dieser toxischen, ultramaskulinen Welt. Der Mitte Februar 2024 nur bei Amazon Prime erschienene Dokumentarfilm „Das letzte Tabu“ zeigt gebrochene Einzelschicksale, öffnet Augen, lässt aber die letzte Konsequenz bei strukturellen Lösungen vermissen.

Den Großteil der knackigen 90 Minuten Laufzeit erhalten die weltweit sieben in der Fußballgeschichte geouteten Profis. Schätzungen gehen übrigens von ca. 30.000 homosexuellen Profispielern auf der Welt aus, vom kollektiven Outing meilenweit entfernt. Justin Fashanu war 1990 der erste, er wurde vom Trainer vor versammelter Mannschaft als „verdammte Schwuchtel“ diffamiert. Thomas Hitzlsperger darf nicht fehlen, als prominentestes Beispiel ist er Vorbild und Werbeträger. Seine katholische, dörfliche Kindheit öffnet dem aufmerksamen Publikum präzise Seiteneingänge zum Verständnis seiner Probleme. Mit Collin Martin kommt ein US-amerikanischer MLS-Sportler mit seiner wahnwitzigen Geschichte zu Wort. Beim Playoffspiel um den Aufstieg 2020 wird ER homophob beleidigt und bekommt DAFÜR die rote Karte. Sein Team, San Diego Loyal, verlässt daraufhin das Feld, verzichtet auf den sicher geglaubten Aufstieg in die erste Liga. Solidarität im Zeichen der Ungerechtigkeit. Das eindringlichste Profil aber bildet Marcus Urban, der zu Zeiten der deutschen Wende kurz davorstand, Profifußballer zu werden, aber seine Identität verstecken und den Traum schließlich aufgeben musste. Viel Hoffnung zieht die Doku vom Einzelfall Jakub Jankto, dem nach seinem Outing bei Sparta Prag 2023 kaum Schmähungen folgten.

Regisseur Manfred Oldenburg verdeutlicht unaufgeregt die Schwierigkeiten des Fußballkosmos. Konventionell erzählt zwischen wohldosierten Talking-Head-Interviews und sowohl Bewegtbild- als auch Foto-Archivaufnahmen, zeigt „Das letzte Tabu“ die Schattenseiten des xenophoben Fußballs. In Zeiten ständiger Selbstvermarktung mit Spielerfrauen als Glamourfaktor, in Zeiten der WM-Vergabe an das Homosexualität verachtende Katar, in Zeiten massiven öffentlichen Drucks baut sich das Hochglanzprodukt Fußball eine hygienische Scheinwelt, bestenfalls ohne Störungen. Diversität: Fehlanzeige. Nicht nur ein Problem für homosexuelle Personen, alle queeren Leute werden ausgeschlossen sowie ein generell allzu kritisches Publikum. Der kurze Ausflug zu Babak Rafatis Suizidversuch steht dafür beispielhaft, ist aber ein Umstand, der den Blick weg vom eigentlichen Thema der Homosexualität lenkt.

Eine weitere Schwierigkeit: Verbindungen zum Sexismus. Schwule Spieler werden als feminin gesehen, mit Frauen gleichgesetzt. Das unterliegende Problem ist die Minderwertigkeit von Frauen mit all den Klischees. Diese seien nicht hart, nicht kämpferisch genug und zu schwach. „Schwul“ gleich „schwache Frau“, die im Fußball, im Wettstreit zwischen eingeschworenen Bruderschaften nichts zu suchen hat. Ein Gleichnis, dem leider für viele Menschen Wahres anhaftet und das es zu durchdenken gilt. Und das umso bemitleidenswerter von der Aktualität eingeholt wird, in der der Frauenfußball an Popularität gewinnt.

Zum Ende lässt der Film jedoch die systemische, strukturelle, fantechnische Seite vermissen. Zu kurz kommen Beispiele homophober Gesänge, nur erwähnt problematische Aussagen von Slaven Bilic (kroatischer Nationaltrainer 2004) oder Philipp Lahm, nur angedeutet Fan-Spruchbänder. Lösungspotentiale wie umfassende Aufklärung, wachsame Bildung oder ähnlich strenge Handhabe seitens FIFA, UEFA, DFB bei Homophobie wie bei Rassismus oder Unterstützung aufstrebender, queerer Fanszenen fehlen. Der Fußball besteht nicht nur aus einzelnen Spielern, er ist die Gesellschaft, immer politisch, immer sozial und immer durchzogen von Normativität durch die Mehrheitsgesellschaft. Wer dem nicht entspricht, ist fremd und wird ausgegrenzt. Es ist die Aufgabe, einen gesamtgesellschaftlichen Wandel voranzutreiben und diesen in die Stadien, zu den Stammtischen und auf die Dorfplätze zu tragen. Der Fall Jakub Jankto zeugt von Fortschritt, den es gibt, der aber nur langsam fortschreitet und der eine Auseinandersetzung von Unten benötigt. Gesellschaftlicher Fortschritt braucht mehr als Einzelfälle privilegierter Profifußballer.

Fazit: Die Amazon-Doku „Das letzte Tabu“ verhandelt auf persönlicher Ebene die Geschichten betroffener Profikicker. Dadurch gerät eine versteckte Community in die Öffentlichkeit, wird sichtbar gemacht und das tabuisierte Thema erfährt eine wichtige, sehenswerte und eindringliche Repräsentation durch die homosexuellen Kicker. Junge, queere Leute erkennen Vorbilder und Ermutigung – und das ist natürlich ungemein relevant! Die Hoffnungen sind dennoch auf dünnem Eis gebaut, gravierende Lösungen werden vermisst, insbesondere auf Fanebene, auf der sich positive und negative Beispiele aufheben. Ist die Fußballgesellschaft wirklich schon so weit? Zweifel sind genauso angebracht wie Hoffnungen.
 
 

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